Anne Dufourmantelle: "Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse"
Aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis
Aufbau Verlag, Berlin 2018
315 Seiten, 20 Euro
Vorwärts in die Ungewissheit
Wer Risiken eingeht, erlebt ungeahnte Freiheit. Dafür wirbt Anne Dufourmantelle in "Lob des Risikos", das jetzt auf Deutsch erschienen ist. Ein Vermächtnis der 2017 verstorbenen Psychoanalytikerin. Unser Kritiker rät: Lasst euch auf das Risiko der Lektüre ein!
Vorab ein Gruß an die Freunde der Systematik, der klaren Argumente und der sauberen Ergebnisse: Dieses Buch ist eine echte Herausforderung - mindestens! Was Anna Dufourmantelle unter "Risiko" versteht, entfernt sich meilenweit vom alltäglichen Verständnis. Sie beklagt, dass man Risiko heute – je nachdem – "zu einem heldenhaften Akt, zu purem Irrsinn, zu einem abweichenden Verhalten" erklärt. Doch beides, Heroisierung wie Pathologisierung des Risikos, führe zu einem unheilvollen Ausschluss des Ungewissen, zu grauem Sicherheitsdenken, zur "Null-Risiko"-Existenz. Merke: "Noch nie ist unsere Knechtschaft so freiwillig gewesen."
Das wohlverstandene Risiko im Sinne Dufourmantelles dagegen entspringt einer Haltung, die im Ungewissen die Chance auf Wandel, Entwicklung und Befreiung erkennt: "Wie das Trauma leitet auch der entscheidende Augenblick, in dem das Risiko eingegangen wird, eine andere Zeit ein: als positives Trauma."
Komplexe Metaphorik
Das positive Trauma zu denken, ist bereits anspruchsvoll. Doch Dufourmantelle strebt weiter. Sie bewirbt das Risiko als universellen Türöffner zum gehobenen Dasein. Es präge nicht allein die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit, in der es "einen ungeahnten Vorrat an Freiheit offenbart". Um den wundersamen Umstand zu erklären, gebraucht Dufourmantelle komplexeste Metaphorik: "Das Risiko gehört zu einer akustischen Familie, zu jener Art von Rückkopplung, die den Klang wieder dem Schallsender zuträgt. Der Klang, der rückwirkend hörbar wird, bewirkt ein heimliches Einvernehmen, vielleicht die einzige Möglichkeit, die Wiederholung zu entschärfen." Ihr Freunde der Klarheit: Immer noch alles klar?
Bis an die Grenze der Nachvollziehbarkeit
Keine Frage, Dufourmantelle spürt mit subtiler Intelligenz den Vorzügen der Risiko-Existenz nach. Sie durchdringt in fünfzig kurzen Kapiteln das Risiko des Ungehorsams, das Risiko der Leidenschaft und der Liebe, der Freiheit und des Glaubens, der Schönheit und der Einsamkeit. Sie durchstreift dabei die Tiefen und Untiefen der modernen Seelenlandschaft. Aber so oft Dufourmantelle auch "wir" sagt und in dieses "wir" die westliche Gesellschaft eingeschlossen wähnt: Ihr Werk ist höchst individualistisch.
Zwar verbindet Dufourmantelle philosophisches Denken und psychoanalytisches Ergründen mit profunder Gesellschaftskritik, sie streut in Kursivschrift Fallstudien aus der Analyse-Praxis ein und glänzt mit Gelehrsamkeit. Doch indem sie an entscheidenden Punkten ins Poetisch-Suggestive ausweicht und ihre Worte absichtsvoll in dekonstruktivistischer Bedeutungs-Unschärfe belässt (sie war mit Jacques Derrida befreundet), offeriert sie dem Leser ein Angebot, das zum Erahnen und Mitempfinden teils mehr taugt als zum Mitdenken.
Geht das Risiko der Lektüre ein!
Ist das ein K.o.-Kriterium? Absolut nicht! Es ist ein Vergnügen, mit Dufourmantelle die geistigen Wege bis an die Grenzen der Nachvollziehbarkeit abzuschreiten, und sich dann ihrem Sound zu ergeben, der Einsichten bisweilen im Modus des Erschauerns einfängt: "Wir sind Häuser, in denen Klagen unbekannter Herkunft spuken, die wir uns zu eigen gemacht haben." Wow! - Ihr Freunde der Klarheit: Geht das Risiko der Lektüre ein. Es winkt ein positives Trauma à la Dufourmantelle.