Anne Enright: "Die Schauspielerin"
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Verlag, München 2020
300 Seiten, 22 Euro
Der lange Schatten der Mutter
05:20 Minuten
Zwei Frauen, die einander brauchen und sich doch verletzen: Tochter und Mutter, letztere erfolgreich und berühmt, bis sie als verrückt abgestempelt wird. Anne Enright macht in „Die Schauspielerin“ daraus einen Roman über konfuse Lebenswirklichkeiten.
Die irische Bestsellerautorin und Booker-Preisträgerin Anne Enright findet immer wieder in Familien den Stoff, um über das Driften im Lebensgetümmel zu erzählen. Und über den Mutterschatten, der sich so oft über die legt, die in diesem Kosmos flattern. Sie nutze dieses Kollektiv als Form, hat sie einmal gesagt, um über tiefere Wahrheiten zu schreiben.
Auch in Enrights neuem Roman geht es um familiäre Beziehungen, aber die Einheit ist geschrumpft. Es schreibt eine Tochter über ihre Mutter, die es in sich hat. Aber welche Mutter ist für eine Tochter nicht höchst eigentümlich?
Diese Mutter ist Schauspielerin, ein Star, eine Diva. Jedenfalls für ein paar Jahre. Selbst Hollywood liegt der Irin zu Füßen. Bevor die Höllenfahrt des Absturzes beginnt, bevor sie altert, trinkt, Tabletten nimmt, kein Geld hat und keine Jobs und auch nicht von dem Priester aufgefangen wird, der sie als Seelendoktor begleitet und vermutlich - jedenfalls für eine Weile - auch ihr Liebhaber ist.
Sinistre Wahrheit über den Vater
Mutter und Tochter leben symbiotisch und vereinzelt miteinander und nebeneinander. Daneben gibt es Kitty, eine freundlich schlurfende Haushälterin, darum herum ein politisch zerrissenes Irland. Familie sind hier die Mutterfreunde und -kollegen, die zu den Partys am Dartmouth Square in Dublin kommen und die sich beinahe alle abwenden von der einst berühmten Schauspielerin, nachdem diese einem ihrer Freunde in den Fuß geschossen hat und dafür verurteilt wird.
Ab sofort gilt sie als verrückt. Die Tochter übernimmt die Deutung. Erst lange nach dem Tod der Mutter versucht sie herauszufinden, wer sie war, warum sie geschossen hat, woran sie litt. Es entfaltet sich ein weit gefächertes Panorama zweier Frauen, die einander brauchen und helfen und sich gegenseitig verletzen. Schuld, Verrat, Liebe, Zuneigung - der Stoff, aus dem Familien gewebt sind. Enright lässt die Ich-Erzählerin Norah einen Brief schreiben an ihren Mann, ihre große Liebe oder ihre große Gewohnheit - oder beides. Die Mutter hatte nicht einen Mann in ihrem Leben, sondern viele, die sie meist vor der Tochter versteckt. Wie deren Vater, den sie vage "wunderbar" nennt – und erst im "verrückten" Zustand die sinistre Wahrheit erzählt.
Konfuse Lebenswirklichkeiten
Enright hat sich für eine mäandernde, eine assoziative Form des Erzählens entschieden. Wie auch die Erinnerung ja mal hier oder dort sich an dieser Person oder jenem Ort entzündet und sinnend verweilt, so lesen wir Episoden aus dieser oder jener Zeit – aus Hollywood, New York oder Dublin, scheinbar unverknüpft und doch unerlässlich, damit man sich, wie bei einem Puzzle, die Teile geduldig suchend zusammenstecken kann. Ein bisschen fehlt in diesem Gewimmel immer mal wieder die Intensität und Nähe, die Enright sonst so rückhaltlos auszuloten versteht.
Es ist ein Roman, der nicht allein das Leben einer rasant erfolgreichen und traurig verlodernden Schauspielerin und ihrer Tochter erzählt, sondern auch von konfusen Lebenswirklichkeiten voller Rollenspiele, in die man sich so leicht verstrickt und darüber womöglich das eigene Ich und das eigentliche Leben vergisst.