Begegnung mit der grausamen Vergangenheit
Das Theaterstück über das Leben der Anne Frank soll täglich fast tausend Zuschauer in das extra dafür erbaute Theater Amsterdam ziehen. So standen die Autoren Jessica Durlacher und Leon de Winter vor der schwierigen Aufgabe, ein leises Kammerspiel, Annes intime Zwiesprache mit ihrem Tagebuch, für ein riesiges, modernes Theater einzurichten. Sie haben dies bestmöglichst gelöst – auch wenn das Stück die Lektüre des Buchs nicht ersetzen, sondern nur dazu anregen kann.
Nicht nur das Theater Amsterdam ist ein Neubau, auch das gesamte Viertel drum herum befindet sich im Aufbau: Der ehemalige Holzhafen ist ähnlich wie die Hamburger Hafencity ein maritimes Vorzeigeprojekt ehrgeiziger Stadtplaner. Noch gibt es rund um das Theater quasi keine Infrastruktur, und der Ort ist mit Bus und Bahn nicht ganz leicht zu erreichen.
Vor diesem Hintergrund ist auch das Stück zu sehen: "ANNE", uraufgeführt am Tag der Befreiung der Niederlande im Beisein von König Willem Alexander, steht unter Erfolgsdruck. Der Glaspalast muss jeden Abend voll werden: Über der stadiongroßen Bühne umarmt eine halbrunde Videoleinwand zu beiden Seiten den Zuschauerraum. Von allen Plätzen (Preiskategorien 75 und 35 Euro) ist beste Sicht, bester Ton garantiert, auch die Simultan-Übersetzung ins Deutsche und Englische funktionierte am Premierenabend tadellos.
Mit einem Kunstgriff nach Paris geschickt
Des Problems, dass Zuschauer in Smoking und bodenlangem Abendkleid der Geschichte eines in einem dünnen Sträflingskittel verendeten Mädchens würden lauschen müssen, war sich das Ehepaar Jessica Durlacher und Leon de Winter wohl bewusst. Sie schicken Anne gleich zu Beginn aus dem KZ Bergen-Belsen in ein feines Pariser Restaurant der Nachkriegszeit. Mit diesem Kunstgriff: "Was wäre, wenn Anne überlebt hätte?", ist die Begegnung mit der grausamen Vergangenheit möglich, ohne dass der Wohlstand der Gegenwart dadurch peinlich oder deplatziert wirken würde.
Ebenso löst das Stück das Versprechen ein, einen neuen Blick auf die Schriftstellerin Anne Frank zu ermöglichen. Denn neben dem Peter, mit dem Anne im Hinterhaus-Versteck eine Liebesaffäre beginnt, gibt es hier einen weiteren, idealen Peter. Den Schwarm der 13-Jährigen, bevor sie untertauchen musste. Damit offeriert die neue Bühnenfassung eine Antwort auf die Frage, die sich wohl jede Gleichaltrige von heute bei der Lektüre des Tagebuchs stellt: Ob Anne Frank sich nur in den mit ihr eingekerkerten Peter van Pels verliebt hat, weil eben kein anderer Junge da war. Anne, so sagt es dieses Stück, besaß eben beides: Eine solche Kraft der Fantasie, der Idealisierung, dass der angehimmelte Peter Schiff stets in ihrem Herzen weiterlebte, und zugleich einen solchen Realismus und zupackenden Lebenshunger, dass sie den zufällig anwesenden Peter van Pels zu schätzen wusste. Die Tiefe ihrer Gefühle und dabei zugleich die Fähigkeit, sich schonungslos über ihre Empfindungen Rechenschaft abzulegen, hätten Anne Frank ohne Zweifel zu einer großen Autorin gemacht.
Naturalistischer Nachbau des Verstecks
Schauspielerin Rosa da Silva verkörpert Anne so anrührend und temperamentvoll, dass ein deutliches Bild entsteht von dem frühreifen, hoch begabten und eigenwilligen Mädchen. Bloß müssen eben drei Stunden Theaterabend und diese große Bühne gefüllt werden. Also streiten und versöhnen sich die Eingeschlossenen im Hinterhaus, fahren die Bühnenelemente, ein naturalistischer Nachbau des Verstecks in der Prinsengracht, auf und nieder oder drehen sich ausgiebigst, und über die Videoleinwände flimmern historische Aufnahmen vom Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Holland, von Juden vor den Gewehren der SS oder auch Hitler mit einer flammenden Blut-und-Boden-Rede.
Handwerklich ist das alles sehr gut gemacht, die mediale Überwältigung ist exakt kalkuliert. So wird dem neuen Anne-Frank-Theaterstück hoffentlich gelingen, was bereits in den 50er-Jahren die Broadway-Version bewirkte: Sie verschaffte dem bis dahin wenig beachteten, in Kleinstauflage erschienen Tagebuch seine einzigartige weltweite Rezeption. Als Anregung zur Lektüre ist „ANNE" gelungen – ersetzen kann es sie nicht.