Hineinversetzen in den Schrecken
Das Nordharzer Städtebundtheater hat die Schicksale der Mädchen Anne Frank und Lilly Cohn in dem Tanztheaterstück "Ich schweige nicht" szenisch umgesetzt - unter anderem in der Klaussynagoge Halberstadt. Die jungen Tänzer haben das Stück selbst entwickelt.
"Toi, toi, toi ..."
Das rufen sich Anna, Bianca, Jaume und Masami zu. Mit dem Cellospiel öffnen sich die Türen in den kleinen Gebetssaal der Klaussynagoge, und die Besucher schauen nach einem Platz. Das Licht wirkt gedämpft, die meisten Scheinwerfer sind auf den Boden gerichtet. Dunkel bleiben dagegen die hohen Bogenfenster und die weit darüber liegende Saaldecke, was bedrohlich wirkt.
Derweil tanzen Anna Vila als Anne Frank und Masami Fukushima als Lilly Cohn spielerisch direkt vor der ersten Sitzreihe. Das ist nicht schwer, ist doch der Platz sehr begrenzt. Die Tänzerinnen können ihr Publikum berühren, so nah sind sich Künstler und Zuschauer.
Die beiden tanzenden Mädchen wirken ausgelassen, fröhlich und dennoch angespannt, vorsichtig, zurückhaltend. Wie kleine flinke Wesen bewegen sich die beiden zur Musik ganz nah über dem Boden, dann auf einem kleinen Hocker, als würden sie Angst haben, entdeckt zu werden in ihrer heimlichen Freude.
Ein tiefe Verbindung mit Anne Frank
Das Stück "Ich schweige nicht" wurde eigens für diesen besonderen Raum choreografisch entwickelt. Knapp 240 Jahre wurden hier Rabbiner ausgebildet, bis die Nazis dem ein Ende setzten. Genau wie dem Leben in Freiheit von Anne Frank und Lilly Cohn. Ursprünglich sollte das Stück nur von Anne Frank handeln, wie die spanische Tänzerin Anna Vila erzählt, die eine besondere Verbindung zu diesem Mädchen aus Amsterdam hat.
"Als ich das Tagebuch von Anne Frank gelesen habe, zum ersten Mal, ich glaube… ich war acht. Und ich habe auch immer auch selbst geschrieben, viel geschrieben, und ich hatte immer diese Verbindung mit Anne Frank. Ich wollte immer Anne Frank spielen. Mit Tanz ist es interessant zu machen, diese Verbindung zwischen dieser Poesie sozusagen, auch die Gefühle die sie hatte, die so tief waren - und die Bewegung."
Neben Anne Frank kam die 1928 in Halberstadt geborene Lilly Cohn ins Spiel. Die Idee hatte der Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters, der um die jüdische Geschichte Halberstadts wusste. Mit Jutta Dick von der Moses-Mendelssohn-Akademie suchten Anna Vila und Bianca Hein die Geschichte von Lilly Cohn aus. Lilly entkam den Nazis mit dem Kindertransport nach England. Es ist eine Geschichte, die lange zurückliegt, aber an Aktualität nichts verloren hat, so Bianca Hein, die den beiden Mädchen Anne Frank und Lilly Cohn als Erzählerin eine Stimme gibt.
Wichtig, es an diesem Ort zu zeigen
"Das war uns wichtig, das hier an diesem Ort zu zeigen. Nicht nur, um zu erinnern an das, was gewesen ist. Sondern auch eine Gegenwart zu schaffen, in der wir fühlen können, was es heute gegenwärtig auch bedeutet, dass Familien auseinandergerissen werden, dass Kinder ihre Eltern verlieren, dass Eltern ihre Kinder verlieren und wie sinnlos das ist."
Auf wenigen Quadratmetern tanzen Anna, Masami und der männliche Tänzer Jaume die Geschichte beider Mädchen, während Bianca Hein dazu aus Tagebucheinträgen und Briefen zitiert. Durch den Tanz und die Begleitung auf Cello und Klavier werden die Höhen und Tiefen der beiden Mädchen für alle spürbar, gerade auch weil dieser Raum so eng ist und dann wiederum so groß durch seine unglaubliche Höhe.
Anna Vila:
"Dieser Raum ist perfekt für dieses Stück, weil zum Beispiel Anne Frank war in diesem Hinterhaus – sehr klein, eng. Und dieses Gefühl von: Wir sind die ganze Zeit eng zusammen und deswegen dieser Raum, weil er hat diesen Sinn, dieses Feeling, dass die Leute so nah dran sind. Für einen Tänzer ist das nicht so einfach. Aber es macht es auch viel intensiver. Es gibt diese Szene wo Bianca, also wo Anne Frank, darüber spricht, was draußen ist. Ich glaube, man kann eine schöne Situation – oder nicht schöne, eine interessante – Situation machen, wenn Anne nach draußen guckt, und sie guckt eigentlich das Publikum an. Und ich glaube dieser Raum ist ein guter Platz, um das zu machen."
"Dieser Raum ist perfekt für dieses Stück, weil zum Beispiel Anne Frank war in diesem Hinterhaus – sehr klein, eng. Und dieses Gefühl von: Wir sind die ganze Zeit eng zusammen und deswegen dieser Raum, weil er hat diesen Sinn, dieses Feeling, dass die Leute so nah dran sind. Für einen Tänzer ist das nicht so einfach. Aber es macht es auch viel intensiver. Es gibt diese Szene wo Bianca, also wo Anne Frank, darüber spricht, was draußen ist. Ich glaube, man kann eine schöne Situation – oder nicht schöne, eine interessante – Situation machen, wenn Anne nach draußen guckt, und sie guckt eigentlich das Publikum an. Und ich glaube dieser Raum ist ein guter Platz, um das zu machen."
Bianca Hein (als Anne Frank):
"Von meinem Lieblingsplatz aus, auf dem Boden, sehe ich den blauen Himmel und auf dem kahlen Kastanienbaum und dessen leeren Zweigen kleine Tropfen wie Silber glitzern. Und ich sehe die Möwen und die anderen Vögel, wie sie im Wind gleiten. Solange das existiert, dachte ich, werde ich leben mögen, um das zu sehen. Diesen blauen Himmel diesen Sonnenschein. Solange das existiert, kann ich nicht unglücklich sein."
"Von meinem Lieblingsplatz aus, auf dem Boden, sehe ich den blauen Himmel und auf dem kahlen Kastanienbaum und dessen leeren Zweigen kleine Tropfen wie Silber glitzern. Und ich sehe die Möwen und die anderen Vögel, wie sie im Wind gleiten. Solange das existiert, dachte ich, werde ich leben mögen, um das zu sehen. Diesen blauen Himmel diesen Sonnenschein. Solange das existiert, kann ich nicht unglücklich sein."
Schreibt Anne Frank in ihr Tagebuch im Versteck, wo sie hofft, den Krieg unentdeckt zu überstehen.
Dieses Gefühl vom Alleinsein
Auch Lilly Cohn, die aus dem 500 Kilometer entfernten Halberstadt stammt, schreibt Tagebuch. Sie spürt, dass sich etwas ändert. Heute lebt Lilly Cohn als Lilly Rosenberg in New York. Sie erinnert sich noch gut, an die Zeit, als in Halberstadt alles anders wurde.
"Wir kamen von der jüdischen Schule, die nicht weit entfernt ist von meinem Elternhaus. Und auf der anderen Seite der Straße waren Kinder, ältere Kinder als wir, die Steine auf uns geworfen haben. Und natürlich tut das recht weh. Und ich dachte, wir haben ja gar nichts getan, wir haben ja nichts angestellt. Was ist eigentlich los? Und dann haben sie uns beschimpft als Juden. Erst dann habe ich verstanden, dass ein Hass da ist. Aber als Kind, wenn man nichts angestellt hat und nichts Schlimmes getan hat, hat man kein Verständnis für diese Reaktion."
Im Tanztheaterstück "Ich schweige nicht" versuchen die beiden Hauptdarstellerinnen, sich besonders in die Rollen der Mädchen hineinzuversetzen, erzählt Anna Vila:
"Ich glaube, dass zum Beispiel Masami, die spielt Lily und ich, wir kommen aus verschiedenen Ländern. Sie kommt aus Japan und ich komme aus Spanien. Ich glaube, für uns, ist es… wir waren auch sehr jung weg von Zuhause, und ich glaube, diese Gefühle von Alleinsein oder allein sich zu fühlen, kennen wir. Ich glaube, das kann man sehr gut spüren in Anne Franks Tagebuch, wenn man es liest, oder auch bei Lillys Briefe. Also, ich glaube, das wollten wir zeigen ein bisschen auch: Die Kinder sind immer noch Kinder, sie wollen spielen, sie wollen Spaß haben, auch wenn die Bedingungen nicht gut sind."
Und so geschieht es, dass Lilly das große Glück hat und zu den zehntausend Kindern gehört, die mit dem Kindertransport aus Deutschland nach England gebracht werden.
Lilly Rosenberg:
"Nun haben wir ein Bild aufgenommen am Bahnhof in Halberstadt. Die Jutta Berliner, die dabei war, die uns begleitet hat, die mit meinem Bruder befreundet war, hat das Bild aufgenommen von meinen Eltern, von meinem Bruder und mir. Und das ist das letzte Bild, das ich von meinen Eltern habe und das ist das letzte Mal, dass ich meine Eltern je gesehen habe."
"Nun haben wir ein Bild aufgenommen am Bahnhof in Halberstadt. Die Jutta Berliner, die dabei war, die uns begleitet hat, die mit meinem Bruder befreundet war, hat das Bild aufgenommen von meinen Eltern, von meinem Bruder und mir. Und das ist das letzte Bild, das ich von meinen Eltern habe und das ist das letzte Mal, dass ich meine Eltern je gesehen habe."
Im Vorfeld haben die Eltern ihrer Tochter von England vorgeschwärmt, sodass ihr der Abschied zunächst nicht so schwerfällt. Doch in England sehnt sich Lilly nach den Eltern und dem Zuhause zurück.
"Meine lieben Eltern ich erinnere mich noch an die Jazztanzabende… Ich erinnere mich an die Schultüte und viele Partys, so Geburtstagsfeiern zuhause. Und nicht nur Geburtstagsfeiern, sondern meine Eltern hatten viele Freunde, und es gab viele Partys und sie waren elegant, die Tische waren schön gedeckt."
Das Schicksal im Tanz lebendig machen
Für Lillys Eltern gab es keinen Ausweg, sie wurden abgeholt, wie Anne Frank. Sie alle mussten sterben. Was von Anne Frank blieb, war ihr Tagebuch, das ihr Vater nach dem Krieg weltweit bekannt machte. Später kümmerte sich Anne Franks Cousin, der Schauspieler Buddy Elias, um das Vermächtnis Anne Franks. Und sprach weltweit über seine Cousine, mit der er als Kind gemeinsame Sommer bei der Großmutter verlebte. So kam Buddy Elias vor seinem Tod auch nach Halberstadt und redete genau in diesem Raum, in dem die jungen Künstler nun Anne Franks und Lilly Cohns Schicksal mit Tanz lebendig werden ließen. Damals sagte Buddy Elias:
"…und vor allen Dingen freue ich mich natürlich, dass Anne, die den Traum gehabt hat, dass irgendetwas was sie geschrieben hat, irgendwann mal vielleicht gedruckt würde, sage ich fast jeden Tag, Anne, Anne, wenn Du wüsstest, was aus Deinem Tagebuch geworden ist! Ja, was bleibt persönlich von der Familie Frank, sie ist natürlich durch Anne unsterblich geworden."
Mit Sicherheit, hätte sich Anne Franks Cousin Buddy Elias über die Inszenierung des Tanztheaterstücks "Ich schweige nicht" gefreut, das Anne Frank und Lilly Cohn auch in dieser Kunstform ein Denkmal setzt. Als die Darstellerin Bianca Hein erfährt, dass sowohl Lilly Cohn und Anne Franks Cousin in diesem Raum auftraten, lächelt sie sanft und sagt:
"Dass Lilly hier war, dass ja, dass der Cousin hier, das macht natürlich auch noch einmal, wir sind hier natürlich in einer Synagoge, dem Ort des Zusammentreffens und da ist es nur folgerichtig, dass so etwas passiert."
Die jungen Tänzer und Schauspieler haben auf eigene Faust, dieses Stück entwickelt. Bei der Premiere wurden sie dafür belohnt mit stehenden Ovationen und der Bitte, diese Tanzperformance noch oft aufzuführen.