Anne Köhler: "Nicht aus der Welt"
© Dumont Verlag
Auszeit vom Leben
06:05 Minuten
Anne Köhler
Nicht aus der WeltDumont, Köln 2022352 Seiten
24,00 Euro
Dem eigenen Leben will man beizeiten doch gern für eine Weile entfliehen. Ein mysteriöses Hotel ermöglicht es. Seine Flure laden zum Verirren ein. Anne Köhler schreibt eine Satire auf die Anforderungen und Erwartungen unserer Gesellschaft.
Hempel hat es nicht leicht: Sein Nachname sorgt stets für unfreiwillige Komik, sein Vorname ist allerdings noch schlimmer. Der junge Mann studiert seit Jahren ziellos dahin, es mangelt ihm an Ehrgeiz und Ausdauer. Als seine tatkräftige Freundin Elfie von ihm wissen will, was denn sein größter Traum sei, lügt er ihr in seiner Not vor, dass er den New York Marathon mitlaufen wolle. Dumm nur, dass er tatsächlich eine Zusage bekommt, und sich plötzlich mit Gepäck und ziemlich verzweifelt am Flughafen wiederfindet.
Angeschlagene Hotelgäste
Ein Ausweg bietet sich in Gestalt eines Flughafenmitarbeiters, der ihn beiseite winkt und zu einem geheimen Hotel in Berlin bringt. Dieses Hotel ist ein Projekt des eigenbrötlerischen Architekten Valentin, der Menschen die Gelegenheit geben will, eine Zeitlang abzutauchen und wieder zu sich zu finden. Auch Friederike ist hier gelandet, eine Dozentin, deren Karriere wegen einer ungewollten Schwangerschaft ins Stocken geraten und die mit der Mutterschaft überfordert ist. Ebenso Linda, die unter Höhenangst leidet und sich nur auf den Balkon wagt, weil sie von dort Valentin heimlich in seiner Wohnung beobachten kann.
Anhand dieser angeschlagenen Charaktere nimmt Anne Köhler die An- und Überforderungen der Gegenwart aufs Korn. Es geht um komplizierte Mutter-Sohn-Beziehungen (sowohl Hempel als auch Valentin leiden unter ihren energischen Müttern), und um Erwartungen, denen der Einzelne nicht gerecht werden kann (die allgemein vorausgesetzte Freude am Mutter-sein empfindet Friederike trotz aller Bemühungen einfach nicht).
Seitenhieb auf Social Media
Immer wieder baut Anne Köhler Seitenhiebe ein, auf eine Gesellschaft, die etwa Frauen mit Kinderwagen das Rauchen verbietet, aber den väterlichen Einsatz feiert, wenn Männer mit Babys im Arm sich auf ein Bier treffen. Oder sie kritisiert Selbstdarsteller in den sozialen Medien, die anderen ein perfektes Leben vorgaukeln: „Alles war Ablenkung und Täuschung, resultierend aus fehlendem Selbstvertrauen. Minderwertigkeitskomplexe und Profilneurosen mussten irgendwie kompensiert werden.“
All das verpackt Köhler in eine durchaus witzige Handlung, wenn etwa Hempel, der eigentlich gar nicht als Hotelgast gelistet ist, mit Linda und Friederike in Valentins Wagen flieht, was den Auftakt zu einer wilden Verfolgungsjagd durch Brandenburg bildet.
Rasanter Roman mit Witz
Vollends überzeugen kann der Roman zwar nicht. Allzu schablonenhaft wirken die Probleme der Figuren, allzu vorhersehbar sind die Wendungen, und hin und wieder erscheint die Handlung recht unglaubwürdig: Kann man die Existenz eines Hotels mitten in Berlin wirklich über Jahre geheim halten?
Dennoch gelingen der Autorin ein interessantes Setting – das Gebäude ist ein Labyrinth aus Fluren und Nischen, das die Gäste absichtlich zu verwirren scheint –, ein feiner, leichter Erzählton und eine magische Schwebe: Ist das Hotel vielleicht nicht ganz von dieser Welt? Und so ist „Nicht aus der Welt“ ein Roman mit einigen Stärken und auch Schwächen, die er mit viel Humor und Rasanz ausgleicht. Damit wird man als Leser oder Leserin gut unterhalten.