Anne Tyler: "Eine gemeinsame Sache"

Erinnerungsaromen der Lachspastete

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Das Cover des Buchs „Eine gemeinsame Sache“ von Anne Tyler zeigt den Buchtitel auf bunten eckigen Farbflächen.
© Kein & Aber

Anne Tyler

Übersetzt von Michaela Grabinger

Eine gemeinsame SacheKein & Aber, Zürich 2022

352 Seiten

26,00 Euro

Von Rainer Moritz |
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Von den alltäglich leise wie laut ausgetragenen Konflikten einer Großfamilie erzählt US-Autorin Anne Tyler. Doch auch kleine Glücksmomente weiß sie eindrücklich zu schildern - mit Wärme und großem Unterhaltungswert.
Es gibt Autorinnen und Autoren, denen man sich blind anvertrauen darf. Mit jedem Buch garantieren sie intelligente Unterhaltung, die einen nie enttäuscht zurücklässt. Zu diesen zählt die 1941 geborene, in Baltimore lebende Anne Tyler, die von Roman zu Roman ihre Kunst unter Beweis stellt. Über zwanzig sind es inzwischen, und mit ihrem neuesten, „Eine gemeinsame Sache“, bewirtschaftet sie ihr ureigenes Terrain, die „domestic fiction“ - also jene auf den Alltag von Mittelstandsfamilien spezialisierte Prosa - in vertrauter, souveräner Weise, ohne jede auftrumpfende Geste. Diese Autorin muss niemandem mehr etwas beweisen.

Familienroman von 1950ern bis Corona

Ihre Verlagsheimat im deutschsprachigen Raum befindet sich seit einiger Zeit in Zürich, bei Kein & Aber, wo man sich einen Spaß daraus macht, Tylers höchst individuelle Buchtitel möglichst nichtssagend ins Deutsche zu bringen. „Launen der Zeit“ oder „Der Sinn des Ganzen“ heißen diese Romane dann so unspezifisch wie nur denkbar, und auch „Eine gemeinsame Sache“ kümmert sich herzlich wenig um den Originaltitel „French Braid“ („Französischer Zopf“)
Der Qualität des Romans tut das keinen Abbruch. Wieder einmal spannt Tyler einen weiten Bogen, der von 1959 bis ins Corona-Jahr 2020 reicht. Im Zentrum steht die Familie Garrett, deren Mitglieder die Romankapitel jeweils im Abstand von etwa einer Dekade begleiten.

Missverständniss und kleine Glücksmomente

Ausgangspunkt sind Robert und Mercy Garrett, die 1940 heiraten, drei Kinder – Alice, Lily und David – bekommen und im Lauf der vielen Jahre alles durchmachen, was eine komplexe Großfamilie an Gutem und Schlechtem bereithält. Da kommen Enttäuschungen zusammen, da bleiben Sehnsüchte unerfüllt, da entwickeln sich Kinder ganz anders, als man es erhoffte, und finden zudem scheinbar völlig unpassende Partner.
Anne Tyler versteht es vorzüglich, eminente Missverständnisse und kleine Glücksmomente mit großer erzählerischer Wärme auszubreiten.

Erschütterungen in jeder Ehe

Selbst der Generation von Robert und Mercy gelingt kein reibungsloses Zusammenleben. Die Erwartungen bleiben hinter dem Alltag zurück.
Sieht es zu Anfang – Robert übernimmt das Installationsgeschäft seines Schwiegervaters – so aus, als ließe sich diese Ehe durch nichts erschüttern, ändern sich die Vorzeichen rasch: Mercy will sich als Malerin (Spezialgebiet: Häuseransichten) beweisen und verlässt still und heimlich das gemeinsame Haus, um in ihrem Atelier zu leben – eine Entscheidung, die das Paar seinen Kindern konsequent verschweigt.

Beste Leseunterhaltung

Nicht alle Figuren in diesem Roman erhalten so viele individuelle Züge wie Robert und Mercy, doch es ist immer wieder bewundernswert, wie elegant Tyler Familienpanoramen entfaltet und die manchmal leise, manchmal laut ausgetragenen Konflikte ihrer Akteure einfängt. Wie zum Beispiel Robert eine Feier zu seiner Goldenen Hochzeit – ein Datum, das seine Frau vergessen hat – vorbereitet und eine mit reichlich Erinnerungsaromen durchzogene Lachspastete serviert, ist eine der zahlreichen liebevollen und melancholiegetränkten Glanzstücke dieses Romans.
Wer in diesem Frühjahr schlichtweg nach einem „good read“, nach Lektüre ohne Reue sucht, ist mit Tylers „Eine gemeinsame Sache“ vorzüglich bedient.
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