Anne Waak: "Der freie Tod - Eine kleine Geschichte des Suizids"
Blumenbar Verlag, Berlin 2016
233 Seiten, 18,00
Geschichte des Suizids als Popliteratur
Anne Waaks "Der freie Tod" verspricht ein "lebensbejahendes Buch" über die Geschichte des Selbstmords zu sein. Es ist originell designed, lockt mit Listen und kuriosen Einzelfällen. Bei unserer Rezensentin ist es trotzdem durchgefallen.
Dies ist ein Buch, das einen offenbar vom unverstellten Blick auf den Inhalt abhalten will. Um an den zu kommen, muss man durch viel irritierende Oberfläche. Das Cover verspricht "Eine kleine Geschichte des Suizids", der Rücken "ein lebensbejahendes Buch über das Sterben". Weiter heißt es: "Trotz Sterbehilfediskussion ist der frei gewählte Tod ein Tabu", dann schwärmt jemand von einer "kleinen Kulturgeschichte", die ihn uns "von seiner bizarrsten, lustigsten und verführerischsten Seite" zeige. Die originelle Klappe vorn lockt mit Menschen, die "sich aus interessanten Gründen und auf interessante Weise" umbringen, und jemand verfügt: "Wer nicht schon einmal daran gedacht hat, sich umzubringen, mit dem stimmt was nicht." Hinten wird die Autorin als Hipster-Garçonne dargereicht.
Lauter 'trigger points': lebensbejahend, Sterbehilfediskussion, Tabu, lustige, bizarre, verführerische, interessante Selbstmordarten. Das Wort kommt komischerweise nicht vor, dabei erklärt Anna Waak im Vorwort, sie benutze es wie von Roger Willemsen vorgegeben. Dort verwirft sie - nach Wolfgang Herrndorfs Liste der Idiotensätze - auch die Mär vom "Tabu Tod" und notiert einen eigenen: "Seit die Menschen über den Selbstmord nachdenken, haben sie sich mit der Depression (oder Melancholie, wie sie lange hieß) beschäftigt."
Inhalte zum Fremdschämen
So unscharf geht es weiter. Etwa mit Listen: "Was Sie schon immer über Selbstmord wissen wollten" (zum Beispiel "die schönste Selbstmörderin"); "Sechs Lieblingsorte von Suizidalen" (eine chinesische Brücke hat "noch mehr Menschen auf dem Gewissen" als die Golden Gate); "Methoden"; "Abschiedsbriefe"; "Schriftstellersuizide" (inkl. shoah-bedingte). Kapitel handeln von Selbstmorden in der DDR, unter Inuit in Grönland, Deutschen in Demmin (als 1945 "die Russen kamen") oder bei Foxconn in China.
Es gibt "die Geschichte" der Selbstmordattentate, Selbstverbrennungen, Doppelsuizide ("Was [sie] gemeinsam haben? Betten. Zum Sterben gehen Paare häufig ins Bett.") und Einzelfälle (der "Kannibale von Rotenburg" und der Pilot, der 2015 auch 150 Menschen tötete - jeweils mit vollen Namen). Am Ende ist auch noch der falling man vom World Trade Center 11.9.2001 dran. Lustig-bizarr-verführerisch? Eher neckisch-poppig-zum Fremdschämen.
Stylisches Brimborium lenkt von Autorin ab
Kaum etwas ist selbst recherchiert, es sind kompaktjournalistisch aufbereitete Quellen, immerhin im Anhang erwähnt. Dort fehlt ansonsten verblüffend viel für eine "Kulturgeschichte": zum Beispiel Jean Améry, Edouard Levé oder Guillon/LeBonniec und ihre "Gebrauchsanleitung zum Selbstmord". Al Alvarez scheint es nur auf Englisch zu geben, Émile Durkheim der probate Fundus für alles zu sein.
Vielleicht, denkt man am Ende, wollte der Verlag mit dem all stylischen Brimborium eine Autorin, die sich auf ihrer Homepage als Expertin für "Pop, Kunst, Kultur, Mode, Leben, Zukunft" empfiehlt, bis eben noch für das Stil-Ressort der "Welt am Sonntag" zuständig war und sich zu den Ex-Popliteraten gesellt hat, ja wirklich vor ungeteilter inhaltlicher Aufmerksamkeit schützen?