Anne Weber: "Annette, ein Heldinnenepos"
Matthes & Seitz, Berlin 2020
208 Seiten, 22 Euro
Verbeugung vor einer kleinen, schmächtigen und mutigen Frau
12:43 Minuten
Annette Beaumanoir war im Zweiten Weltkrieg in der Resistance, im Algerienkrieg stand sie auf gegen ihr eigenes Land. Die Schriftstellerin Anne Weber traf sie zufällig, war von ihr gebannt und hat ein Heldinnenepos aus Beaumanoirs Leben destilliert.
Andrea Gerk: Annette Beaumanoir ist eine Frau, über deren engagiertes Leben an französischen Schulen gesprochen wird. Sie war schon als Jugendliche Mitglied der kommunistischen Resistance und hat zwei jüdische Jugendliche gerettet. Nach dem Krieg hat sie sich auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung engagiert und wurde deshalb zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Heute ist Annette Beaumanoir 96 Jahre alt, und die Schriftstellerin Anne Weber erzählt in ihrem neuen Buch von ihr in Form eines "Heldinnenepos". Frau Weber, Annette Beaumanoir hat auch selbst von ihrem bewegten Leben erzählt. Ich habe gelesen, dass sie letztes Jahr die deutsche Ausgabe ihrer Biografie in Berlin vorgestellt hat und dass Sie auch dabei waren. Sie erzählen am Ende Ihres Buches auch, wie Sie der Liebesblitz getroffen hat, als Sie diese Frau getroffen haben.
Weber: Ich bin absolut zufällig und unvorbereitet auf sie gestoßen, und vermutlich ist das auch der Grund, warum diese Begegnung so stark auf mich gewirkt hat. Das war in Südfrankreich im Département Drôme in einem Ort namens Dieulefit: Ich war zu einem kleinen Dokumentarfilmfestival eingeladen und sollte auf einem Podium mit anderen Leuten über einen Film reden.
Wie es bei solchen Veranstaltungen ist, war hinterher für das Publikum noch Gelegenheit, das Wort zu ergreifen, und unter anderem meldete sich eine kleine, schmale, alte Frau. Als die dann anfing zu reden: Es gibt Momente im Leben, wo man sich plötzlich ziemlich klein vorkommt, auch wenn man, wie ich, ungefähr zwei Köpfe größer ist als diese Frau.
Ich hörte zu und dachte, Mensch, jetzt sitzt du hier und erzählst irgendwelchen Quatsch über Dinge, von denen du eigentlich keine große Ahnung hast, und hier im Publikum ist eine Frau, die wirklich etwas zu erzählen hat, einfach weil sie diese Zeit erlebt und mitgestaltet hat. Dann ist sie später noch zum Abendessen geblieben, wir haben nebeneinander gesessen, und sie hat mir eine erste Kurzfassung ihrer Lebensgeschichte erzählt.
Liebe auf den ersten Blick
Gerk: Wussten Sie gleich nach dieser ersten Begegnung, dass Sie etwas daraus machen wollten?
Weber: Nein. Ich hatte überhaupt nicht die Idee im Kopf, ein Buch zu machen, sondern es war einfach der starke Wunsch in mir, diese Frau wiederzusehen und mehr von ihr zu erfahren. Es war tatsächlich so eine Art coup de foudre, Liebe auf den ersten Blick. Ich habe mich in sie verliebt, wenn man so will, weil sie wirklich eine ganz tolle Frau ist. Dann bin ich nach ein paar Wochen wieder hingefahren, und von da an haben wir uns regelmäßig gesehen. Ich habe sie auch in der Bretagne häufig besucht, wo sie herkommt und wo sie immer noch einen Teil des Jahres verbringt.
Als mir dann langsam aufging, dass ich ihr vielleicht doch ein Buch widmen würde, hat sie mich nicht nur ganz bereitwillig machen lassen, sondern sie war auch immer bereit, auf alle Fragen zu antworten, die mir dann beim Schreiben oder beim Nachforschen oder Nachdenken noch eingefallen sind. Und sie hat mir einfach vertraut, was sehr großzügig war.
Sie hat zudem ganz schnell etwas verstanden, was wahrscheinlich schwer zu akzeptieren ist, wenn ein fremder Mensch die eigene Geschichte erzählt: Dass die Hauptfigur dieses Buches nicht sie sein würde, so wie sie sich sieht, sondern so, wie ich sie sehe.
Als sie das Manuskript dann gelesen hat, hat sie zu mir gesagt: "Das ist ja ganz toll, aber das bin eigentlich nicht ich. Das ist deine Annette." Und das, obwohl ich mich sehr eng daran gehalten hatte, was sie mir von ihrem Leben erzählt hat und was ich darüber wissen konnte.
Zweimal das Leben riskiert
Gerk: Diese echte Annette, die hat sich ja zweimal für eine Sache wirklich begeistert und auch ihr Leben riskiert. Beim zweiten Mal hat sie ihre Familie verlassen, ist nach Algerien gegangen. Sie schreiben, da bestand eine eigene innere Spannung. Ist das bis heute spürbar, diese Spannung? Sind Sie hinter das Geheimnis dieses großen Engagements gekommen?
Weber: Ich denke, es ist eine Art Auflehnung in ihr gegen etwas, mehr noch als eine Begeisterung für etwas – eine Empörung: Ein bisschen, nehme ich an, wie bei diesen jungen oder auch alten, mutigen Menschen, die irgendwo eingreifen, wenn vor ihnen zum Beispiel jemand zusammengeschlagen wird. Das ist wie ein Reflex, den manche Leute haben, und sie gehört offenbar dazu. Ich fürchte immer, nicht dazuzugehören und eher ängstlich zu sein.
In ihrem Fall ist das, glaube ich, dieses Gefühl, dass da was falsch läuft. Wenn etwas völlig falsch läuft in der Gesellschaft, das wirkt auf sie wie ein Imperativ: So können die Dinge nicht bleiben, da muss jetzt was getan werden; und wenn was getan werden muss, dann heißt es bei ihr gleich, ich muss etwas tun, damit diese Situation aufhört.
Ich bin keine Psychologin und behaupte nicht, zu wissen, was in ihr vorgeht. Ich kann da nur Vermutungen anstellen. Aber eine davon ist, dass sie zehn Jahre nach dem Krieg – sie ist dann nach und nach in einem einigermaßen bürgerlichen Leben angekommen, ist Ärztin geworden, hat einen Arzt geheiratet und Kinder bekommen –, dass sie dann vielleicht doch noch einmal so etwas wie den Kitzel des Abenteuers gesucht hat. Vielleicht war ihr das nicht bewusst.
Vor allem war ihr sicherlich nicht bewusst, was sie aufs Spiel setzt. Man denkt ja nicht, dass man gefasst wird und was alles auf dem Spiel steht – man denkt ja nicht in jeder Sekunde daran. Natürlich hat sie ihr Leben eingesetzt, aber auch ihre Familie stand auf dem Spiel und ihre Kinder, von denen sie dann getrennt wurde.
Auflehnung gegen Unterdrückung
Gerk: War es das, was Sie so besonders fasziniert hat? Dieser Text wirft so viele grundlegende Fragen auf: Wann kippt eine Begeisterung in Verblendung? Würde ich das auch tun? Für was würde ich mein Leben riskieren? Ist das etwas, was Sie auch an diesen Text so gefesselt hat, an der Arbeit an dieser Frau?
Weber: Durchaus. Es ist wohl immer das Gleiche, was sie im Grunde mitgerissen und wofür sie gebrannt hat. Ich glaube, das ist vornehmlich der Wunsch nach Gerechtigkeit und Gleichheit, dass also keiner wegen seiner Herkunft und Religion schlechter behandelt wird; aber auch Auflehnung gegen Fremdherrschaft und Unterdrückung.
Während der deutschen Besatzung war das ihr eigenes Land Frankreich, das auf demütigende Weise diese Fremdherrschaft erdulden musste; und im Grunde erlebt sie den Algerienkrieg oder ihr Engagement darin als Kontinuität ihrer Aktivität in der Resistance, nur dass sie jetzt nicht zu den Unterdrückten gehört, sondern selbst auf der Seite der Unterdrücker ist.
Die Franzosen sind ja diejenigen, die Algerien besetzt und kolonisiert haben, und ich glaube, dass sie das dann fast noch schlechter erträgt. Algerien war ja nicht annektiert wie Marokko zum Beispiel, sondern gehörte richtig zu Frankreich. Es war eingeteilt in französische Départements, nur dass neun Zehntel der Einwohner dieser Départements, der algerische Anteil, kein Wahlrecht besaß. Das Wahlrecht besaßen nur die dort ansässigen Franzosen oder Leute mit europäischer Herkunft.
Ich glaube, als ihr bekannt wurde, dass die französische Armee in Algerien auch folterte, was das der Auslöser. Da muss sie sich gesagt haben, ich habe jetzt mein Leben riskiert im Krieg, um diese Unterdrücker und Folterer loszuwerden, und jetzt ist es mein eigenes Land, Frankreich, das hier in Algerien unterdrückt und foltert, das also quasi die Methoden der Gestapo anwendet. Das muss sie dann zum Handeln geführt haben.
Heldinnenepos statt Roman
Gerk: Sie sind ja für literarische Experimente bekannt - und auch diesmal haben Sie eine sehr eigenwillige Form gewählt, denn Sie erzählen von dieser Annette in Form eines Heldinnenepos. Man kennt ja eher Heldenepen, zum Beispiel die Ilias von Homer oder auch das Nibelungenlied, das ist also ein Text in Versform in gehobener Sprache. Wie sind Sie auf diese Form gekommen, hat der Stoff sie dazu gedrängt?
Weber: Das ist genau so gewesen. Es ist eigentlich kein Experiment, sondern es ist mehr eine Art Ausschlussverfahren gewesen, in dem ich da vorgegangen bin. Es gab verschiedene Möglichkeiten oder Vorgehensweisen, die ich mir für dieses Buch gar nicht vorstellen konnte oder die mir widerstrebt haben.
Die Art des Erzählens, zu der ich dann gefunden habe, ist durch die Frage gekommen, wie ich mit einem lebenden Menschen umgehen kann. Ich habe mich gefragt, darf ich einfach machen, was ich will mit dieser Frau, die ich nun ein bisschen kenne. Ich habe darauf mit nein geantwortet.
Es hätte mir widerstrebt, aus dieser Frau eine Romanfigur zu machen, ihre Geschichte auszumalen, irgendwelche Details dazu zu erfinden, Dialoge zu schaffen, ihr auch Worte in den Mund zu legen, wie es in Romanen ja üblicherweise geschieht. Diese Frau gibt es, die lebt ja – und ich hatte das Gefühl, ich kann mich nicht einfach ihrer Person und ihrer Geschichte bedienen.
Es wäre mir im Übrigen auch ein bisschen sinnlos erschienen, zu diesem an sich schon sehr romanhafte Leben noch etwas hinzu zu erfinden und es zu Fiktion zu verarbeiten. Dann ist mir eingefallen, dass es eine sehr alte und ehrwürdige Form gibt, in der das Leben von Helden traditionellerweise in der Literatur erzählt wird, und zwar das Heldenepos. Weil es um eine Frau geht, ist ein Heldinnenepos draus geworden.
Es wäre wahrscheinlich kein Heldenepos daraus geworden, wenn meine Figur ein Mann gewesen wäre. Tatsächlich hat mir die Vorstellung gut gefallen, dieser kleinen, schmächtigen und uralten Frau etwas so Imposantes und Kriegerisches und Männliches wie ein Heldenepos, also vielmehr Heldinnenepos, zu widmen.
Beaumanoir sieht sich nicht als Heldin
Gerk: Ich nehme an, Anne Beaumanoir hat das auch gefallen, oder?
Weber: Eigentlich nicht. Sagen wir mal, das Buch an sich hat ihr gefallen, aber sie mochte sich nicht. Es hat sie verwundert und ihr eigentlich ein bisschen missfallen, sagt sie, dass sie als Heldin dargestellt wird. Sie sagt immer, das sei doch alles ganz normal, was sie da gemacht habe im Krieg und auch später noch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.