„Nevermore“ von Cecile Wajsbrot
Aus dem Französischen übersetzt von Anne Weber
Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 229 Seiten, 22 Euro
Anne Webers Übersetzung von "Nevermore"
Anne Weber ist Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Französischen. Sie lebt seit 1983 in Paris. © imago images /Agencia EFE / Luca Piergiovanni
Höchste Sprachkunst war gefordert
29:47 Minuten
"Nevermore" heißt der Roman von Cécile Wajsbrot, den Anne Weber ins Deutsche übersetzte. Darin geht es um das Übersetzen eines Romans von Virginia Woolf ins Französische und "um ein Herantasten, um die Suche nach einer bestmöglichen Entsprechung".
Der Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ging 2022 an Anne Weber. Sie hat sowohl als Übersetzerin als auch als Schriftstellerin bereits einige Preise bekommen, zuletzt 2020 den Deutschen Buchpreis für ihr Buch „Annette, ein Heldinnenepos“.
Eine Auszeichnung für eine Übersetzung sei deshalb besonders schön, weil damit auch ein Werk gekrönt werde. Eine Übersetzung könne gar nicht gewürdigt werden, ohne auch das Buch mit zu würdigen, sagt Anne Weber.
Ein Preis für das Übersetzen schlechthin
Dorothea Westphal: Wird mit diesem Preis auch die Arbeit des Übersetzens mehr gewürdigt?
Anne Weber: Das stimmt, zumal es vielleicht auch eine Rolle gespielt haben könnte bei der Wahl der Jury, dass es in diesem Buch auch um das Übersetzen geht. Die Hauptfigur ist ja eine Übersetzerin, und das ist dadurch tatsächlich ein Preis quasi für das Übersetzen schlechthin.
Dorothea Westphal: Ihre Sprachkunst sei deshalb gleich mehrfach gefordert gewesen, hieß es in der Begründung der Jury für die Nominierung. Denn der Roman erzählt von der Übersetzung eines Kapitels aus dem Roman „To the Lighthouse“, „Zum Leuchtturm“ von Virginia Woolf aus dem Englischen ins Französische. Worin bestand für Sie die besondere Herausforderung bei der Übertragung wiederum ins Deutsche?
Anne Weber: Ich musste klarmachen, dass man hier zwar etwas auf Deutsch liest, aber dass das ja eigentlich Französisch ist. Das ist natürlich bei jeder Übersetzung so, werden Sie mir sagen. Aber es ist nirgendwo, also in meiner Erfahrung jedenfalls, so wichtig gewesen, auch deutlich zu machen, dass es hier um eine andere Sprache geht, weil Cécile Wajsbrots Hauptfigur, die Übersetzerin, sich ständig auf das Französische bezieht.
Und dann geht es um Fragen wie: Welche Nachteile hat hier das Französische? Oder welche Fragen stellen sich bei der Übersetzung aus dem Englischen einer bestimmten Passage von Virginia Woolfs Roman? Was ist da zu beachten? Oder welche Schwierigkeiten gibt es? Und natürlich geht es bei diesen Schwierigkeiten um Schwierigkeiten, die sich im Französischen stellen.
Allerdings, und das hat mir sehr bei der Übersetzung geholfen, ist Cécile Wajsbrot auch des Deutschen kundig, so dass sie in ihrem Roman immer wieder auf die deutsche Sprache verweist. Und diese Verweise auf das Deutsche habe ich einfach noch ein bisschen ausgeweitet. Aber das ist schon ein bisschen tricky gewesen.
Dorothea Westphal: Haben Sie auch manchmal Rücksprache mit Cécile Wajsbrot gehalten?
Anne Weber: Nicht während der Arbeit. Aber ich habe ihr hinterher die Übersetzung geschickt und sie hat sie sehr gründlich gelesen und hat auch Anmerkungen gemacht und hat auch ein paar Fehler gefunden. Und wir haben das dann zusammen noch so ein bisschen korrigiert und besprochen.
Dorothea Westphal: Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass wir bei der Lektüre des Romans „Nevermore“ Einblicke bekommen in den Vorgang des Übersetzens. An einzelnen Sätzen lässt die Autorin ihre Ich-Erzählerin die verschiedenen Optionen für eine mögliche Übersetzung durchspielen. Und so beginnt auch gleich das Buch:
Anne Weber (liest): „Well, we must wait fort he future to show“, said Mr. Banks, coming in from the terrace. - Wir müssen warten, dass die Zukunft sich zeigt, sagte Mr. Banks, von der Terrasse kommend. Wir müssen sehen, was die Zukunft für uns bereithält, sagte Mr. Banks, von der Terrasse kommend. Wir müssen darauf warten, dass die Zukunft sich zeigt, sagte Mr. Banks, als er von der Terrasse ins Haus trat. Wir müssen warten, womit die Zukunft uns aufwartet, sagte Mr. Banks, der von der Terrasse hereinkam. Warten wir, was die Zukunft für uns bereithält. Warten wir ab, was die Zukunft… Nun, wir müssen abwarten, was die Zukunft… sagte Mr. Banks, der von der Terrasse kam. (aus: „Nevermore“ von Cécile Wajsbrot)
Wie eine Überfahrt ohne Ankunft
Dorothea Westphal: Der Roman ist auch eine Art Übersetzerwerkstatt, an der wir beim Lesen teilhaben. Übersetzung wird darin als eine ungenaue Wissenschaft bezeichnet und u.a. mit dem Bild einer Schiffsreise von einer Sprache in die andere beschrieben. Haben Sie den Vorgang Ihrer Übertragung ähnlich erlebt? Ist jede Übersetzung eine mühevolle Reise?
Anne Weber: Die Metapher des Übersetzens, um mit einem Boot zu einem anderen Ufer zu gelangen, ist natürlich eine gängige Metapher. Aber was ich so besonders finde an dem Roman von Cécile Wajsbrot, ist, dass es eigentlich bei dieser Überfahrt, also bei diesem Übersetzen, gar keine Ankunft gibt.
Es kommt hier nie der Moment, wo man sagen könnte: So, das ist jetzt die richtige, bestmögliche Übersetzung dieser Passage des Romans von Virginia Woolf, sondern es geht eigentlich immer nur um ein Herantasten, um die Suche nach einer bestmöglichen Entsprechung. Und eigentlich geht es überhaupt nicht um das Ergebnis. Das ist, finde ich sehr erstaunlich, denn eigentlich hat man es beim Lesen immer mit einem Ergebnis zu tun. Aber hier ist das Übersetzen wirklich nachverfolgbar als ein gedanklicher Prozess.
Dorothea Westphal: Es heißt an einer Stelle: „Die Arbeit bestand einzig darin, so nah wie möglich am Text zu bleiben, die Musik und den Rhythmus des Originals so gut wie möglich wiederzugeben.“ Würden Sie dem zustimmen?
Anne Weber: Ja, das ist natürlich etwas, was einem beim Übersetzen immer wichtig ist und am Herzen liegt. Und das ist eine der Herausforderungen, dass man nicht nur einen Sinn zu übersetzen hat, eine Bedeutung, sondern eben auch eine Musik und einen Rhythmus. Das ist ein Gesamteindruck, der sich ergeben muss, und zwar aus jedem Satz. Das muss alles stimmen.
Dorothea Westphal: Der Roman von Virginia Woolf besteht aus drei Kapiteln, die von 1910 bis 1920, also in der Zeit des Ersten Weltkriegs, spielen. Das erste Kapitel spielt im Sommerhaus der Familie Ramsay auf der schottischen Hebrideninsel Skye. Die Mutter hat dem Sohn eine Fahrt zu einem vor der Küste gelegenen Leuchtturm versprochen, aber erst zehn Jahre später, im dritten Kapitel, wird es dazu kommen.
Da ist aber Mrs. Ramsay bereits tot und die Familie hat das Sommerhaus längst aufgegeben. Im Roman von Cécile Wajsbrot geht es allerdings nur um die Übertragung des zweiten Kapitels. Das heißt „Time passes“, „Die Zeit vergeht“. Warum hat Cecile Wajsbrot dieses Kapitel gewählt? Was meinen Sie?
Zerstörung und Neubeginn
Anne Weber: Ich halte das für das dichterische Herzstück dieses Romans von Virginia Woolf. Und dann ist es ja auch so: Die Übersetzerin im Buch von Cécile Wajsbrot ist eine Französin, die für diese Arbeit ein Stipendium beantragt, und zwar in Dresden. Und es ergibt sich dann im Laufe des Romans tatsächlich nicht nur die Verbindung von dem verlassenen Haus und Garten bei Virginia Woolf zu dem ehemals zerstörten Dresden, sondern es spinnen sich quasi Fäden zu sehr vielen anderen Orten der Zerstörung und der Verwüstung.
Es gibt eine Industrieruine in New York, die Highline, die renaturiert worden ist. Es gibt einen Ort in Ostfrankreich, der zerstört worden ist im Krieg und den es eigentlich nur noch als Ortsschild gibt und der aber trotzdem noch einen Bürgermeister hat. Es gibt die Ruine der Kathedrale von Coventry zum Beispiel.
Ich denke, fast allen diesen Orten ist nicht nur die Verwüstung gemeinsam, sondern auch, dass sie Orte auch eines Neuanfangs sind. Eine Wiedergeburt natürlich in Dresden, das wiederaufgebaut wurde, oder in der verbotenen Zone von Tschernobyl, von der viele Pflanzen und Tiere wieder Besitz ergriffen haben.
Und ich denke, das ist kein Zufall, dass das Buch mit dem Satz beginnt „Well, we must wait fort he future to show“, wir müssen warten, was die Zukunft bringt. So düster das auf den ersten Blick alles scheint - es ist schon ein Roman, der unter dem Vorzeichen des Neuanfangs und eigentlich der Zukunft auch steht.
Neues Leben durch eine Übersetzung
Ich habe mich gefragt, ob Übersetzung nicht auch etwas gemeinsam haben könnte mit diesem verlassenen Haus. Ob ein fertiges Buch nicht etwas Lebloses bekommt und dann im Grunde durch den Blick des Lesers, der Leserin oder auch des Übersetzers, der Übersetzerin zu neuem Leben erweckt wird.
Dorothea Westphal: Ist der Titel des Romans „Nevermore“ eine Anspielung auf Edgar Allan Poes Gedicht „The Raven“? Darin antwortet ein Rabe einem um seine Geliebte trauernden Mann auf jede seiner Fragen mit „nevermore“. Und im Roman trauert die Übersetzerin um eine verstorbene Freundin, der sie in Dresden immer wieder zu begegnen glaubt.
Anne Weber: Also, ich denke, dass Wajsbrot auf jeden Fall auch an Edgar Allan Poe gedacht hat. Aber es gibt sonst keine Anspielung im Roman auf ihn. Ich glaube, es ist eher ein Verweis auf das, was mit diesem "Nevermore" ausgedrückt wird, auf den Tod, auf das Verschwinden dadurch, dass es an all diesen Orten immer auch eine Wiedergeburt und einen Neuanfang gibt. Und gerade beim Übersetzen ist es ja immer wieder ein Neu-Ansetzen. Es gibt ja nie den Moment, wo man sagen könnte, das ist jetzt die absolut endgültige Übersetzung von Virginia Woolf oder von Cécile Wajsbrot, sondern das muss immer wieder von vorne versucht werden.
Dorothea Westphal: Ich fand es faszinierend, wie, ähnlich dem Roman von Virginia Woolf, in „Nevermore“ alles miteinander verwoben ist, die Motive immer wiederkehren. Wie haben Sie das empfunden?
Anne Weber: Ja, das habe ich so ähnlich empfunden. Man hat vielleicht, wenn man uns zuhört, das Gefühl: Ja, was hat das eigentlich alles miteinander zu tun, diese Orte des Verschwindens und die Musik und das Übersetzen? Aber wenn man den Roman liest, stellt man sich diese Fragen nicht, sondern das fügt sich alles ganz selbstverständlich zusammen, obwohl es oder vielleicht, weil es so hochkomplex ist und auch so komponiert, ist, dass es einem einleuchtet und dass man überhaupt nicht denkt: Wieso kommt jetzt das? Und was hat es damit zu tun?
Die Freiheit der Neuschöpfung
Dorothea Westphal: An einer Stelle sagt die Übersetzerin, dass es ihr darum gehe, so getreu wiederzugeben wie möglich. Ist das Übersetzen trotzdem eine Art Neuschöpfung?
Anne Weber: Mit der Treue ist das ja so eine Sache. Worauf bezieht die sich genau? Bezieht sie sich auf den Sinn? Oder bezieht sie sich auf den Rhythmus eines Satzes, eines Absatzes, eines Verses oder all das zusammen? Ich denke, alles zusammen natürlich. Aber darin liegt die ganze Schwierigkeit. Und wenn alles zusammengeht, dann muss es notwendigerweise auch eine Art Neuschöpfung sein, denn man muss sich eine gewisse Freiheit nehmen können.