Annett Gröschner: "Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten"
Edition Nautilus, Hamburg 2020
328 Seiten, 20 Euro
Das Durchschimmern alter Geschichte
09:52 Minuten
Annett Gröschner durchstreift Berlin, sucht überschriebene Spuren der Vergangenheit. In einem Essayband sind ihre Beobachtungen mehrerer Jahrzehnte erschienen. Jetzt, in diesen Coronazeiten, erinnere sie manches an das Berlin der 80er, erzählt sie.
Wenn sie durch die Stadt streift, in der sie seit langem zu Hause ist, versteht sich Annett Gröschner als "Seismografin". Geboren wurde die Schriftstellerin in Magdeburg und kam 1989 ans Theater in Berlin, wo sie schon seit den frühen 80er-Jahren lebte.
Seit diesen Tagen ergründet sie auch die Stadt, wie sie sagt, belegt in vielen ihrer Texte. Für Annett Gröschner gleicht Berlin einer Art Schriftstück, das immer wieder überschrieben und ausgebessert werde, sagt sie im Deutschlandfunk Kultur: "Ich finde, dass Berlin ein Palimpsest ist: Es ist eine Stadt, die aus vielen Schichten besteht. Und diese Schichten werden immer wieder überdeckt durch neue Schichten. Immer bleibt etwas übrig, das durchschimmert an alter Geschichte."
"Bürgerstuben" – wegen Corona geschlossen
"Berliner Bürger*Stuben" lautet der Titel des neuen Buchs der Schriftstellerin. Es enthält zumeist essayistische Texte über Berlin, laut Verlag ein Querschnitt ihrer Arbeit über die Stadt der vergangenen Jahre. "Bürgerstuben", das ist nicht nur der Titel ihres Essaybandes, sondern auch der Name einer Kneipe, in der sie oft sei - und die vor wenigen Tagen wie alle Lokale und Restaurants aufgrund der Einschränkungen durch die Coronapandemie geschlossen wurde.
Dieser Lock-Down und die Folgen für das Nachtleben und die Kneipen führe dazu, dass Berlin bei Fahrten durch die Stadt fast wie in den 80er-Jahren wirke, als es nachts eben noch ruhiger zugegangen sei, sagt Annett Gröschner.
Applaus für die, die längst nicht mehr dort leben
Ein sehr markantes Beispiel für die von ihr beobachteten Veränderungen sei der Prenzlauer Berg. "Das Viertel ist komplett überschrieben worden", sagt die Schriftstellerin. Zwar seien die Häuser noch da, doch hätten sich selbst diese komplett verändert. In manchem schlechten Keller dieser sanierten Bauten vielleicht könne man noch erkennen, wie die Häuser vor 100 Jahren einmal ausgesehen haben.
Ein sehr gutes Beispiel für die dort vollzogenen Veränderungen sei zuletzt an einem Abend der Applaus von den Balkonen in der Käthe-Kollwitz-Straße gewesen, erzählt Annett Gröschner, der ja eigentlich vor allem den medizinischen Helfern gelten sollte in diesen Tagen und Wochen der Coronakrise.
"Wem applaudieren sie hier eigentlich", fragt sie. "Die Krankenschwestern und Verkäuferinnen wohnen hier nicht mehr!" Und mit genau diesem Widerspruch habe für sie der Applaus dann doch einen deutlichen Beigeschmack gehabt.
Zurück nach 1988 - lieber doch nicht
Annett Gröschner beschreibt die Veränderungen der Stadt und beklagt sich auch über deren Folgen für sie selbst: Etwa, dass sie wie viele aus ihrer Wohnung nach 20 Jahren herausgeklagt wurde.
Aber sehr klar sagt sie auch: "Wenn ich mir vorstelle, ich müsste nach 1988 gebeamt werden - ich würde schreiend wegrennen."