Annette Leo: Das Kind auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie
Aufbau-Verlag, Berlin 2018
176 Seiten, 10 Euro
Willy Blum aus dem Vergessen geholt
Die Historikerin und Journalistin Annette Leo hat das kurze Leben des Sinto-Jungen Willy Blum recherchiert, der von den Nazis ermordet wurde. Sie zeichnet in ihrem Buch ein etwas anderes Bild seines Schicksals als der berühmte Roman "Nackt unter Wölfen".
Das Leben des 16-jährigen Willy Blum, eines Sinto-Jungen, endete im September 1944 in Auschwitz. Die Historikerin und Journalistin Annette Leo hat nun die Geschichte des Kindes aufgeschrieben, das nach einem Platztausch auf einer Liste für den Auschwitz-Transport mit dem jüdischen Jungen Stefan Jerzy Zweig sein Leben verlor. Während der Stefan Jerzy als Überlebender von Buchenwald im Roman "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz traurige Berühmheit erlangte, blieb die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie völlig vergessen.
Neue Sicht auf das Geschehen
Nun zeigt Leo in ihrem Buch, dass Willy Blum selbst darum bat, den Platz auf der Liste für den Auschwitz-Transport zu tauschen, um seinem kleineren Bruder beizustehen. "Und das ändert natürlich diese Geschichte komplett, weil Willy Blum wird da nicht zu einem Objekt auf einer Liste, der von anderen Menschen dort hingeschoben wurde, sondern ist für mich dadurch zu einem Subjekt geworden, der selbst entschieden hat, was er möchte, selbst wenn diese Wahl seinen eigenen Tod bedeutete", sagte Leo. In ihrem Buch dokumentiert sie auch, wie beschämend sich die Entschädigungsbehörden nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber der Sinto-Familie verhielten.
Das Interview im Wortlaut:
Christian Rabhansl: Die Geschichte des Jerzy Zweig ist weltberühmt. Er hat Buchenwald überlebt als ein kleiner Junge, als ein Kind von vier Jahren. Seine Geschichte ist auch deswegen so weltberühmt, weil seine Rettung die Grundlage gebildet hat für den Roman "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz. Das ist eine heroische Widerstandsgeschichte, die da erzählt wird, der kommunistischen Gefangenen im KZ, die den kleinen Jungen versteckt und damit gerettet haben – eine mythisch vielleicht teilweise überhöhte Geschichte, fortgeschrieben durch erst die DDR-Kinoverfilmung, dann die erweiterte Romanfassung vor einigen Jahren und schließlich die Neuverfilmung der ARD 2015, also vor drei Jahren.
Einer aber ist dabei eigentlich fast immer vergessen worden, nämlich der Junge, der an Jerzys statt starb, und das soll sich jetzt ändern. Die Historikerin Annette Leo hat ein Buch über diesen Jungen verfasst: "Das Kind auf der Liste" heißt das Buch, "Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie". Guten Tag, Frau Leo!
Annette Leo: Ja, guten Tag!
Rabhansl: Die Geschichte des Jerzy Zweig haben also Millionen Menschen gelesen und auch gesehen, aber vielleicht trotzdem nicht mehr alle Details parat. Mit drei Jahren eben ins KZ Buchenwald gebracht worden, nach wenigen Wochen sollte er dann gemeinsam mit 200 anderen Kindern nach Auschwitz gebracht werden. Als dann aber dieser tödliche Transport anstand, war sein Name auf der Liste gestrichen und stattdessen stand dort der Name Willy Blum. Wie kam es zu diesem Namenstausch?
Leo: Ja, also jetzt wissen wir darüber mehr, am Anfang gab es nur den Fund so Ende der 90er-Jahre, diesen Fund dieses Dokuments im Archiv, dass da ein Name gestrichen ist und an der Stelle auf einem Zusatzblatt dann die Nummer 200, Willy Blum, stand. Man nahm an, dass es sich um einen Opfertausch handelte, das, was häufig passierte in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, dass Häftlinge, die dazu in der Lage waren, Namen austauschten. Aber wenn sie einen Namen wegstrichen, um denjenigen zu retten, mussten sie immer einen anderen Namen an die Stelle setzen, also ihr Handlungsspielraum war sehr, sehr begrenzt.
Eigene Entscheidung
Rabhansl: Und wenn ich Ihr Buch richtig lese, dann war das zwar in der Tat ein neues Opfer, aber mit dem Wort Opfertausch sind Sie nicht ganz zufrieden. Warum?
Leo: Nein, es ist sowieso ein sehr merkwürdiges Wort, muss man sagen, aber davon abgesehen stimmt das auch im Falle von Willy Blum nicht, weil es tauchte dann einige Jahre später ein weiteres Dokument im Archiv auf, und daraus geht hervor, dass Willy Blum selbst gebeten hatte, diesen Transport begleiten zu dürfen, weil sich nämlich sein kleiner Bruder, der neun Jahre alt war, auf dieser Liste befand, und er wollte seinen kleinen Bruder nicht alleine nach Auschwitz gehen lassen.
Und das ändert natürlich diese Geschichte komplett, weil Willy Blum wird da nicht zu einem Objekt auf einer Liste, der von anderen Menschen dort hingeschoben wurde, sondern ist für mich dadurch zu einem Subjekt geworden, der selbst entschieden hat, was er möchte, selbst wenn diese Wahl seinen eigenen Tod bedeutete.
Rabhansl: Der Bruder, sagten Sie gerade, war neun Jahre alt. - Willy Blum mit seinen 16 Jahren, meinen Sie, der wusste, auf was er sich einlässt?
Leo: Ja, die Familie kam ja aus Auschwitz, die hatten davor im sogenannten Zigeunerfamilienlager in Auschwitz-Birkenau gelebt, unter schrecklichen Bedingungen, und zwar in Sichtweite der Gaskammern. Ich weiß nicht, ob Willy Blum wusste, dass nach ihrem Abtransport von dort nach Buchenwald alle anderen, die noch dort geblieben waren, ermordet worden waren, das ist mir nicht klar. Aber dass er wusste, auf was für ein Risiko er sich da einließ, wenn ein Transport von im Sinne der SS unnützen Essern dort wieder hingebracht wurde und dass das nicht in ein Heim ging, wo es besser ist, wie offenbar die SS-Leute den kleinen Kindern Glauben machen wollten, das ist mir schon sehr klar.
Keine reine Opfergeschichte
Rabhansl: Es geht um eine Liste von 200 Kindern, auf denen dann eben Namen gestrichen wurden und in der grauenerregenden Bürokratie diese 200 wieder aufgefüllt werden mussten aus Sicht der Nationalsozialisten. 200 Namen, elf Namen ausgetauscht, wie in diesem Falle von Willy Blum, und von dem Transport von den 200 kamen nur zwei lebend an, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.
Leo: Zwei haben überlebt. Unter welchen Umständen wissen wir nicht.
Rabhansl: Deshalb meine Frage: Wie sehr ist dieses Schicksal oder diese Geschichte des Willy Blum eine Einzelgeschichte oder ein Massenschicksal?
Leo: Sie ist eine Einzelgeschichte wegen seiner Entscheidung. Ansonsten ist es ein leider Massenschicksal, dass nur wenige Kinder und Jugendliche, die in die Mühlen der nationalsozialistischen Konzentrationslager kamen, dort überleben konnten, weil sie die geringsten Chancen hatten, überhaupt am Leben zu bleiben. Und insofern ist er exemplarisch für mich auch für diese 200 Kinder, aber auch für eine selbstständige Entscheidung, eine mutige, traurige, selbstständige Entscheidung.
Rabhansl: Sie haben vorhin gesagt, dass dieser Perspektivwechsel aus diesem Kind, das vorher als Objekt betrachtet wurde, jetzt ein handelndes Subjekt macht, und das finde ich wirklich beeindruckend an Ihrem Buch: Sie machen das eigentlich mit der ganzen Familie, denn Sie erzählen die Geschichte der Familie Blum nicht als reine Opfergeschichte, obwohl die gesamte Familie ganz furchtbar gelitten hat, sondern Sie erzählen eine reiche Traditionsgeschichte dieser Sinti-Familie, die mit einem Marionettentheater durchs Land gezogen ist. Was ist das für eine Tradition?
Leo: Ja, das ist zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, glaube ich, eine ganz reiche Tradition, vor allem in Mitteldeutschland, in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen gewesen, wo etwa 150 Wandermarionettentheater durch die Gegend zogen, beileibe nicht alles Sinti – also da war gar kein Unterschied, die Leute fühlten sich miteinander verbunden aufgrund ihres gemeinsamen Gewerbes, ihrer gemeinsamen Kultur –, und in den kleinen Gemeinden und Dörfern oftmals für Wochen blieben, dort ihr Lager aufschlugen, ihre Wagen stehen ließen, ihre Vorstellungen gaben. Die spielten also nicht nur Kasperletheater für Kinder, sondern auch so Helden- und Ritterlegenden, aber auch zum Beispiel …
Rabhansl: "Hamlet."
Leo: "Hamlet" soll sich auf dem Spielplan der Familie Blum befunden haben, und auch das Volksstück des "Doktor Faustus zu Wittenberg". Das waren komplizierte Stücke, Texte, die in vielen Familien mündlich überliefert wurden und wo die Kinder frühzeitig eingebunden wurden in diese Führung der Marionetten, in das Sprechen der Rollen, aber auch so Vor- und Nachspiele, wo sie selber vors Publikum traten und sangen und Sketche vortrugen, Instrumente spielten. Also das lernten diese Kinder alles sozusagen von ihren Eltern und beim Machen.
Kampf um Entschädigung
Rabhansl: Also eine stolze, wirklich reichhaltige Tradition und Kultur, die Sie da erzählen, und einen kleinen Einblick, das habe ich bei Ihnen gelesen, bietet das TheaterFigurenMuseum in Lübeck, dort sind nämlich noch Figuren der Familie Blum zu sehen.
Ihr Buch trägt den Untertitel: "Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie". Das ist eine ziemlich bittere Geschichte, denn die Diskriminierung und die Schikane, die begann schon lange, bevor die Familie verhaftet wurde und ins KZ gebracht wurde. Und diese Schikane, die hörte auch mit der Befreiung und den Beginn der Bundesrepublik noch lange nicht auf. Was, Frau Leo, hat die Familie Blum erlebt bei ihrem Bemühen, an Anerkennung und Entschädigung zu kommen?
Leo: Das war für mich wirklich eine erschütterndsten Lektüren, diese Entschädigungsakten sich anzuschauen. Die sind ja dann nach dem Ende, nach der Befreiung in die Westzonen gegangen und haben dort Anträge gestellt auf Entschädigung – mithilfe von Anwälten und Häftlingsorganisationen und so weiter. Und wie die da behandelt wurden, wie die ignoriert wurden, wie ihre Erzählungen in Zweifel gezogen wurden, sinnlose, absurde Beweise gefordert wurden, die sie hätten gar nicht bringen können für das, was ihnen da angetan wurde, also das hat mich noch mal erschüttert. Und letztlich haben die sich alle dann mit ihnen geeinigt, den Entschädigungsbehörden, dass sie zustimmen, nur die Mindestrente zu bekommen. Weil sie kein Geld hatten, sind sie darauf eingegangen, sie hätten wahrscheinlich viel, viel mehr bekommen können.
Rabhansl: Was ja aber auch daran lag, dass zum Beispiel aus der sogenannten Münchner Zigeunerleitstelle aus der NS-Zeit später die Landfahrerzentrale wurde und dort teilweise dieselben Menschen gearbeitet haben, oder auch an anderer Stelle, Menschen, die früher für die Verhaftung gesorgt haben, später begutachtet haben die Entschädigungsanträge exakt derselben Menschen, die sie vorher ins Lager geschickt haben.
Leo: Das ist wirklich ein Skandal, der ist eigentlich auch schon bekannt. Wenn man das wissen wollte, ist das seit einigen Jahren bekannt, aber wenn man das noch mal so am Beispiel einer Familie und ganz konkreten Personen sieht, dass da jemand, der also wirklich in München schon für die Verhaftung der Leute gesorgt hat und jetzt den einen Sohn der Familie, den Hugo, dann noch mal kriminalisieren wollte, indem er dann schrieb, das ist wahrscheinlich alles gegenstandslos, der ist ja als Krimineller verhaftet worden …
Rabhansl: Wegen eines Fahrraddiebstahls.
Leo: Wegen eines Fahrraddiebstahls, ein Fahrrad, was er benutzt hat, um zu fliehen vor einer drohenden Verhaftung. Und in dem Fall ist es glücklicherweise so, der Name, den konnte ich identifizieren, das war also der Herr Geyer, der auch schon als Polizist in der NS-Zeit da sein Unwesen getrieben hat, aber die Entschädigungsstelle ist glücklicherweise seiner Empfehlung nicht gefolgt und hat also diesem Hugo auch so Mindestentschädigung zugesprochen.
Trauriges Kapitel
Rabhansl: Aber das zog sich sehr, sehr lange hin, und Sie haben viele solche Beispiele. Ich fand auch schockierend das Urteil des Bundesgerichtshofs im Jahr 1956, da ging es darum, ob denn Entschädigung zusteht, zum Beispiel bei der einen Tochter, die ab der siebten Klasse durch die Verhaftung aus der Schule komplett rausgerissen wurde und deshalb nicht mehr zur Schule gehen konnte. Wie lautete da dieses Urteil?
Leo: Da steht, dass die Zigeuner ja sowieso mit unserer abendländischen Kultur nicht viel am Hut haben – ich kann das jetzt nicht wörtlich zitieren – und dass sie sowieso nur ihre Kinder zur Schule geschickt haben, weil das der Staat von ihnen gefordert hat und sie sich bis heute nicht integrieren können in die Gesellschaft, und deswegen wäre das jetzt auch kein Schaden, dass sie da aus der Schule rausgerissen wurde.
Rabhansl: Ich traue mich jetzt kaum noch zu fragen: Für wie ausreichend und angemessen halten Sie die bundesrepublikanische Entschädigungspolitik?
Leo: Die war nicht ausreichend und nicht angemessen, und man muss dabei auch sehen, dass andere Opfer, zum Beispiel die als sogenannte Kriminelle oder Berufsverbrecher ins KZ kamen, als Asoziale, als Homosexuelle, dass ihnen die Entschädigung komplett verweigert wurde. Das war dann also bei den Sinti und Roma ein bisschen abgestuft, weil sie halt in Auschwitz waren, das konnte auch die bundesdeutsche Entschädigungsbehörde nicht ignorieren, aber irgendwelche Härtestellen haben dann seit den 70er-, 80er-Jahren versucht, noch bestimmte absolute Fehlurteile noch zu korrigieren. Letztlich ist das aber ein ganz trauriges Kapitel der bundesdeutschen Geschichte.
Die Vorurteile bleiben
Rabhansl: Ich hab noch eine letzte, persönliche Frage an Sie, Frau Leo: Nach dieser Recherche und dieser Arbeit an diesem Buch, wenn Sie heute Nachrichten lesen aus Italien, dass der Innenminister Salvini eine Sondererfassung von Sinti und Roma will, wenn die Fraktion der AfD im sächsischen Landtag die Staatsregierung nach der Zahl und Schulpflicht von Sinti und Roma in Sachsen fragt, wenn überhaupt rechtspopulistische Regierungen mit allerlei Begründungen wieder Zählungen und Listen von Minderheiten planen, was geht da in Ihnen vor?
Leo: Ja, das ist nicht vorbei, die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Die Vorurteile sind immer noch massiv. Das liegt auch daran, dass die Sinti und Roma nur so eine geringe Lobby haben. Also jetzt haben sie hier in der Bundesrepublik einen Interessenverband, der ihre Interessen vertritt, aber auch erst seit den 80er-Jahren. Und auch die ganze Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma, also die Deutschen haben ja bis weit auf den Balkan ausgegriffen und haben die Leute dort versucht zu erfassen und zu deportieren, die ist auch in dem an sich ganz gut entwickelten deutschen Gedächtnis, was die NS-Verbrechen betrifft, überhaupt noch nicht verankert. Und da gibt es noch eine Menge zu tun.
Rabhansl: Da gibt es eine Menge zu tun, und nächste Woche wird ein bisschen was getan: Am Donnerstag wird bei der internationalen Gedenkfeier in Auschwitz-Birkenau der ermordeten Sinti und Roma gedacht. Vielen Dank, Frau Leo, für das Gespräch!
Leo: Gern!
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