Annie Dillard: Pilger am Tinker Creek
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karen Nölle
Matthes & Seitz, Berlin 2016
348 Seiten, 22,00 Euro
Die Natur in ihrer grandiosen Unerklärlichkeit
Annie Dillard kann um die Natur um sie herum nur staunen. Für sie ist die Welt am Tinker Creek, an den sie sich zurückgezogen hat, voller Wunder - wenn auch nicht immer positiver Natur. Für ihre Aufzeichnungen in "Pilger am Tinker Creek" wurde sie schon Mitte der 1970er-Jahre ausgezeichnet. Nun ist es neu erschienen.
Die erste Verblüffung ist ein Frosch, der am Flussufer sitzt und sich nicht regt. Vor der Augen der Autorin schrumpelt er zusammen wie ein Ball, aus dem jemand die Luft herauslässt. Schließlich bleibt nur die leere Haut, die im Wasser versinkt wie ein welkes Blatt. Der Frosch wurde von einer Riesenwanze ausgesaugt, die ihre Beute mit einem Stich lähmt und das Köperinnere mit ihrem Gift verflüssigt. Es sind immer wieder derartige Szenen, die Annie Dillard faszinieren, so wie die Gottesanbeterin, die das Männchen, von dem sie gerade begattet wird, langsam verspeist. Zuerst frisst sie den Kopf, dann den Rumpf. Der Unterleib des Männchens vollendet unterdessen die Fortpflanzungspflicht.
Da kann man schon darüber nachdenken, was das für ein Schöpfer ist, der derartige Kreaturen erschaffen hat. Warum gibt es das alles? Wofür hat die Ulme gezackte Blätter, und jeder Zacken ist wieder gezackt? Warum all der Aufwand? Wozu diese gigantische Vielfalt, wenn es viel einfacher wäre, es gäbe nur wenige Formen oder nur eine einzige, die sich bewährt hat?
Annie Dillard ist eine staunende Beobachterin
Annie Dillard stellt Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Sie war Mitte Zwanzig, als sie sich 1972 in Virginia auf den Spuren von Henry David Thoreau in die Natur und in die Einsamkeit am Ufer des Flusses Tinker Creek zurückzog. Sie war examinierte Anglistin, erholte sich von einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung und von der Ehe, die sie als Studentin mit ihrem Professor eingegangen war. Doch von all dem erfährt man nichts. Sie ist nichts als Beobachterin, die sieht und staunt. Sie braucht nur die Haustür zu öffnen, und die Welt ist voller Wunder. Aber alles, was sie sieht verweist diese Pilgerin des Lebens auf einen abwesenden, sich verbergenden Gott - auch wenn es sich dabei um einen "schwer gestörten Manisch-Depressiven" handeln sollte, der sich bizarre Spielzeuge erfunden hat und ein Universum, das kein Mensch überblicken kann.
Dillards Blick ist unsentimental, neugierig und niemals kitschig. Dennoch - oder gerade deshalb - vermag sie auch all die grandiosen Schönheiten zu würdigen und zu gewahren, die es doch auch gibt. Schönheit ist für sie keine Geschmacksfrage, sondern etwas "objektiv Gegebenes", und es ist die Schönheit ihrer poetischen Sprache, mit der sie es erfasst. Sie ist Naturforscherin ebenso wie Lyrikerin. Die Schönheit der Sprache ist der Schlüssel zum Verständnis der Dinge und Lebewesen. Sie weiß, dass auch das Sehen "natürlich weitgehend eine Sache der Verbalisierung" ist. Was wir nicht sagen können, können wir auch nicht sehen.
"Pilger am Tinker Creek" schon 1975 Pulitzer Preis-Gewinner
"Pilger am Tinker Creek" erschien 1974 und wurde 1975 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Eine deutsche Übersetzung gab es unter dem Titel "Der freie Fall der Spottdrossel" 1995 bei Klett-Cotta. Jetzt ist das Buch in der Reihe "Naturkunden" bei Matthes und Seitz wiederzuentdecken. Die zyklische Wiederkehr im 20-Jahres-Rhythmus passt zu diesem unvergänglichen Werk, dessen Beobachtungszeitraum ein Jahr von Winter zu Winter umfasst. Dillard bezeichnet ihre Suche als ein "meteorologisches Tagebuch der Seele".
Ihr Blick auf die Vielfalt der Lebensformen einer Natur, in der nichts zu abwegig ist, um vorzukommen, ist ihre Art der Theodizee. Das hat nichts mit Frömmelei zu tun. "Gott bewahre uns vor Meditationen", schreibt sie. Es ist eine Einübung ins Loslassen, um sich den Phänomenen ganz zu öffnen. Und so entfaltet sich die Welt in diesen wunderschönen Texten in ihrer ganzen, grandiosen Unerklärlichkeit.