Annie Ernaux: Die Jahre
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp, Berlin 2017, 256 Seiten, 18,00 Euro
Erinnerungen ohne Ich-Erzähler
In unserer Zeit des autobiografischen Romans schreibt die Französin Annie Ernaux eine Anti-Autobiografie. Da sich für sie das Individuelle und das Kollektive gegenseitig beeinflussen, gibt es in ihrem einzigartigen Buch kein Ich.
Wie Marguerite Yourcenar mit ihrer dreibändigen Familiengeschichte "Das Labyrinth des Lebens" hat Annie Ernaux mit den drei Titeln "Das bessere Leben" (dt. 1986), "Das Leben einer Frau" (dt. 1993) und nun "Die Jahre" eine Trilogie über Vater, Mutter und sich selbst verfasst. Aber im Gegensatz zu Yourcenar mit ihrer fast romanesken Art der Familienschilderung schreibt Ernaux in einem sachlichen, beinahe nüchternen Stil, ohne Metaphern und ohne Beurteilungen.
Annie Ernaux wurde 1940 in der Normandie geboren und verbrachte ihre Jugend in Yvetot. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen, der Vater war Fabrikarbeiter und schließlich kleiner Laden- und Cafébesitzer. Als er stirbt, hat sie eben ihr Staatsexamen bestanden, um Studienrätin zu werden. Das empfindet sie als Verrat an ihrer Herkunft, den sie wiedergutzumachen versucht, indem sie, über die Eltern schreibend, ihre Kindheit wiederfinden will – als Motto des Buchs dient ein Zitat von Genet: "Schreiben ist die letzte Zuflucht, wenn man verraten hat."
Erinnerungen und soziologische Beobachtungen
Die soziologische Sichtweise spielt in ihrem Werk eine bedeutende Rolle, es ist stark beeinflusst durch die Alltagsforschungen des Kultursoziologen Pierre Bourdieu, auch dieses neue Buch "Die Jahre", in dem sie selber im Mittelpunkt steht. Und auch wieder nicht, denn es ist keine Autobiografie der üblichen Art. Passagen persönlicher Gedanken und Erfahrungen wechseln regelmäßig ab mit Aufzählungen und Beschreibungen des typischen französischen Lebens zwischen 1945 und 2007. Das verbindet das Buch mit Georges Perecs "Je me souviens", einer Sammlung von 480 kurzen Erinnerungsfetzen aus dem Pariser Alltagsleben. "Ja, ich erinnere mich" heißt es einmal mit deutlicher Anspielung auf Perec.
Geleitet werden wir freilich von privaten Fotos, die Annie Ernaux im Verlauf der Jahre zeigen. Die Beschreibungen und die damit verbundenen persönlichen Gedanken gehören zu den schönsten Passagen des Buches: das kleine Mädchen am Strand, die 16-Jährige in Yvetot, der Studienabschluss, das Muttersein und so weiter. Die Bilder führen die Autorin zum Nachdenken über das Glück, die Existenz oder die "tiefe Wahrheit" in Françoise Sagans Romanen.
Aber immer wieder erinnert sie daran, dass wir nicht allein sind und dass wir in einer bestimmten Epoche leben; deshalb gibt es hier kein Ich. Wir erfahren etwas über Kleidung und Essen, über Reklame und Fortschritt, über Wiederaufbau und Rückständigkeit. Genau das ist Ernaux' Ziel: "Sie will in einem individuellen Gedächtnis das kollektive Gedächtnis finden und so die Geschichte mit Leben füllen", steht wie ein Resümee am Ende des Buchs.