Annie Ernaux: "Die Super-8 Jahre"

Familiengeschichte und Selbstfindung einer Autorin

05:20 Minuten
Alte Aufnahme von Annie Ernaux, die als junge Frau ein geblümtes Kopftuch trägt und mit zwei Kindern auf dem Oberdeck eines Ausflugsdampfers sitzt.
"Annie Ernaux - Die Super-8 Jahre" setzt sich aus Heimvideos zusammen, die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und ihre Familie zwischen 1972 und 1981 aufgenommen haben. © Film Kino Text
Von Susanne Burg · 27.12.2022
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Die französische Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux ist in einem sehr persönlichen Dokumentarfilm zu erleben: Mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot ist sie durch alte Super-8-Aufnahmen gegangen und hat daraus einen Film gemacht.
Im Winter 1972 legt sich die Familie Ernaux eine Super-8-Kamera zu und beginnt sofort die damalige familiäre Idylle festzuhalten. Die 32-jährige Mutter kommt nach einem Einkauf mit ihren beiden Söhnen zur Wohnungstür herein, sie steht im braun-orange gestreiften Pullunder lachend in der Küche, vor dem Bücherregal im Wohnzimmer.
Neun Jahre lang haben Annie Ernaux und ihr Ehemann Philippe kleine Hobbyfilme gemacht – Szenen einer Ehe und einer Familie im Urlaub an der Ardèche und in Marokko, aber auch Bilder von politisch außergewöhnlichen Orten wie Albanien, Russland oder Chile.

Leben auf der Leinwand

Premiere hatten „Die Super-8 Jahre“ im Mai bei den Filmfestspielen in Cannes. Dort saß die 81-jährige Schriftstellerin mit ihrem Sohn auf der Bühne und erzählte von der Genese des Films.
"Die Aufnahmen lagen jahrzehntelang ungesehen in einem Schrank. Vor einiger Zeit waren meine beiden Söhne und meine vier Enkelkinder zu Besuch. Wir holten die Filme heraus, guckten sie uns im Kreise der Familie an, und da kam die Idee auf, dass wir daraus etwas machen und ich den Kommentar zu den Bildern schreibe. Denn ich wusste, von wann die Aufnahmen waren und wie sich das Leben auf der Leinwand entfaltete."
Und so sehen wir die Bilder von damals mit den Augen der Annie Ernaux von heute. Während sie mit ihren Kindern mit dicker Jacke und Mütze in den winterlichen Bergen im Schnee posiert, erzählt sie in einem fast poetischen Kommentar, dass hinter dem Bild der unscheinbaren jungen Mutter eine heimlich gequälte Frau lag, die eigentlich ein großes Bedürfnis hatte zu schreiben.

Eine andere Realität

Viele der Bilder im Film erzeugen diesen Eindruck von Glück – und viele der Kommentare, die Ernaux mithilfe ihrer Tagebucheinträge von damals schrieb, konterkarieren diesen Eindruck. Weihnachten 1972 packen die beiden Kinder fieberhaft ihre Geschenke aus. "Unter all dem" – so Annie Ernaux in ihrem Kommentar – "nehme ich jetzt eine andere Realität wahr, die Nachmittage, wenn ich nicht unterrichte und heimlich schreibe – einen Roman, der erzählt, wie die Bildung und die Kultur mich getrennt haben von der Arbeiterwelt meiner Geburt."
"Heimlich", so Annie Ernaux weiter, „weil ich es meinem Mann nicht sagen kann, meiner Mutter noch weniger."
1974 – also zwei Jahre nach dem Beginn der Super-8-Aufnahmen – erscheint Annie Ernauxs Romandebüt "Les armoires vides".

Immer weniger Glück

Im Laufe der neun Jahre, die die Familie mit der Super-8-Kamera unterwegs ist, sucht die Kamera immer weniger nach glücklichen Momenten, gibt es immer weniger Bilder von intimen, familiären Situationen und immer mehr von Sehenswürdigkeiten auf Reisen. Die Familienbande lösen sich auf. 1981 schließlich trennt sich das Paar, die Kinder bleiben bei ihr.
"Giscard d’Estaings Zeit endete, Mitterrand wurde Präsident", so Annie Ernaux in einem Halbsatz. Kleine Einordnungen von Familiengeschichte in weltpolitische Geschehnisse. Denn die Aufnahmen sind für sie auch das Zeugnis einer Zeit, so Annie Ernaux bei der Premiere in Cannes.

Ich habe mich nie getrennt von der Gesellschaft gefühlt, sondern immer als Teil einer Ära.

Annie Ernaux

"Ich wollte ein möglichst vollständiges Porträt dieses Jahrzehnts erstellen", sagt Ernaux, "und so wollte ich den großen gesellschaftlichen Wandel mit einbeziehen, den die 70er-Jahre mit sich brachten. Es ist nicht immer in den Bildern selbst spürbar, aber die 70er-Jahre veränderten unsere ganze Mentalität, unser Verhältnis zum Konsum und der Umweltschutz war erst im Anfangsstadium."

Gesellschaft im Umbruch

"Die Super-8 Jahre" sind auf faszinierende Weise Familiengeschichte, feministisches Dokument über die Selbstfindung einer Schriftstellerin und Reflexionen über eine Gesellschaft im Umbruch. Ganz wie in ihren Büchern verknüpft Annie Ernaux Autobiografisches mit soziologischen und gesellschaftspolitischen Gedanken.
Aber die Familienbilder und die Stimme von Ernaux lassen einen viel unmittelbarer in den Kosmos und das Werk der Französin eintauchen. „Die Super-8 Jahre“ erweitern damit das Bild dieser faszinierenden Schriftstellerin, die ihre Kunst nun noch einmal in einem ihr neuen Genre fortschreibt.

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