Literarisches Tagebuch aus dem Trümmer-Berlin
07:58 Minuten
2003 wurde ein anonymer Bericht über das Kriegsende 1945 zum Bestseller. "Eine Frau in Berlin" galt als authentisches Dokument. Eine Historikerin hat nun aufgedeckt: Der größte Teil wurde erst Anfang der 50er-Jahre geschrieben.
Sigrid Brinkmann: "Eine Frau in Berlin", der schlichte Titel passt zu den lakonisch chonungslosen Beschreibungen einer anonym bleibenden Frau, die die Tage vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin erlebte. Sie schildert den Zusammenbruch des Regimes, den Alltag in der zerbombten Hauptstadt, wiederholte Vergewaltigung durch Rotarmisten.
1959 war die Chronik in der Schweiz erschienen, doch damals wurde der Autorin vorgeworfen, ihr Buch sei eine "Schande für die deutsche Frau". Es verkaufte sich nicht. Ganz anders war das 2003, als der Eichborn-Verlag das Buch in der Anderen Bibliothek neu auflegte.
In den Pressejubel über das wertvolle, zeithistorische Dokument stimmte damals nur ein Journalist nicht ein: Jens Bisky bezweifelte die vollständige Authentizität der Aufzeichnungen und lag damit richtig.
Yuliya von Saal arbeitet als Historikerin am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin und veröffentlicht eine Studie über die Abweichung der Edition von 2003 vom Originaltagebuch. Guten Abend, Frau von Saal!
Yuliya von Saal: Guten Abend!
Brinkmann: Die Anonyma wurde 2003 enttarnt. Hinter dem Pseudonym verbarg sich die 2001 mit 90 Jahren verstorbene Journalistin Marta Hillers. Warum haben Sie den Fall erst so viele Jahre später aufgegriffen?
Saal: Weil wir erst im Jahr 2016 den Nachlass beziehungsweise die Unterlagen, die dieses Tagebuch betreffen, bekommen haben, und zwar von dem Sohn von Kurt Marek, von Max Marek.
Bestseller in den USA
Brinkmann: Kurt Marek war mit Marta Hillers befreundet und damals wurde gemutmaßt, er könne möglicherweise nach dem Tod der Autorin an dem Buch mitgeschrieben haben. Welche Rolle spielt er überhaupt bei der Publikation der Tagebücher in der Anderen Bibliothek?
Saal: Ja, also das war die Enthüllung sozusagen und die Mutmaßung von Jens Bisky, dass Kurt Marek an dem Tagebuch mitgeschrieben habe. Die Unterlagen, die wir bekommen haben, sind nicht nur die Originale, die handschriftlichen Hefte, sondern auch Briefe zwischen den beiden. Nachdem Kurt Marek in die USA emigriert war, stand er in einem engen Austausch mit der Autorin Marta Hillers.
Nach der Auswertung aller Unterlagen, die uns vorliegen, kann ich seine Beteiligung als Mitschreibender ausschließen. Aber sie wollte das Buch überhaupt nicht auf Deutsch zu publizieren. Als sie das '59 dann letztendlich gemacht hat, war das zum größten Teil auf die Überredungskünste von Kurt Marek zurückzuführen.
Brinkmann: Es war ja unglaublich erfolgreich in den USA, wo es erstmalig auf Englisch 1954 erschien und dann auch in 15 Sprachen übersetzt wurde. Die Kollegen von der Presse haben Jens Bisky damals Bösartigkeit unterstellt, als er Zweifel an der Unmittelbarkeit der Schilderungen und auch der politischen Urteile äußerte.
Es heißt, dass der Eichborn-Verlag keinerlei Quellenangaben gemacht hätte, etwas, was ja üblich ist bei zeithistorischen Dokumenten. Könnten Sie sich erklären, warum Leute, die ja doch geübt sind, viel zu lesen, sich damals eher blind verhalten haben?
"Sie hat sehr stark literarisiert"
Saal: Es kann sein, dass Hans Magnus Enzensberger, der das Buch herausgebracht hat, über die Identität der Autorin Bescheid wusste. Er stand tatsächlich mit der realen Marta Hillers in einem Briefwechsel, allerdings in einer anderen Angelegenheit. Ich weiß nicht, ob er damals schon wusste, dass es die Frau ist, die diese Tagebücher geschrieben hat: Kann sein, dass er sie kannte und darauf vertraute.
Und tatsächlich ist erst in der Diskussion herausgekommen, dass dem Verlag die Originale nicht vorlagen. Vielleicht lagen sie ihnen kurz vor, genauso wie später dem Kempowksi, der ja ein Gutachten erstellt hat. Und der Journalist Volker Ulrich von der "Zeit" hat auch eine Gelegenheit gehabt, die Originale zu sehen, dass es die überhaupt gibt. Aber einen Abgleich der Textstellen hatte bis jetzt keiner gemacht.
Brinkmann: Das haben Sie unternommen. Wie stark weicht das Buch von den Originaltagebüchern ab?
Saal: Grundsätzlich ist es natürlich so, dass sie das sehr stark literarisiert hat. Sie hat zum Beispiel konsequent anonymisiert, sich selbst und alle Personen, die ihr besonders nahestanden. Auch die verschiedenen Männer, die Rotarmisten, mit denen sie zu tun hatte. Sie hat bestimmte Gedanken stärker ausformuliert. Dazu gehört auch der starke feministische Standpunkt: Kritik der nationalsozialistischen Männlichkeitskonstruktion zum Beispiel kommt bei ihr immer wieder vor.
Sie hat außerdem bestimmte historische Tatsachen im Nachhinein korrigiert – im Wissen der Geschehnisse. Dadurch geht natürlich auch ein Stück an Authentizität verloren. Der größte Bruch war bei ihr letztendlich, dass sie bestimmte Sachen dramaturgisch überspitzt hat, und dazu gehört zum Beispiel die Angst, schwanger geworden zu sein. Das ist im Tagebuch im Original nicht der Fall.
"Eine selbstbewusste und gut beobachtende Frau"
Brinkmann: Man war ja 2003 gebannt von der Kühle, mit der die Anonyma beschrieb, was ihr und auch anderen Frauen in dem zerbombten Berlin passierte, immer wieder vergewaltigt zu werden, dauerhaft Hunger zu haben. Hat sich Ihr Blick, Frau von Saal, auf die Person Marta Hillers, die nicht wollte, dass ihre Identität enttarnt würde, durch diese Studie verändert?
Saal: Ich habe mich auf sie eingelassen, und ich habe mich natürlich auch mit ihrem Lebenslauf auseinandergesetzt. Sie hat schon ein wahnsinnig buntes Leben gehabt. Sie hat ja die Weimarer Zeit und den Nationalsozialismus erlebt. Anfang der Dreißigerjahre begeisterte sie sich auch für die Sowjetunion, sie war auch in der Sowjetunion. Sie hat in Nachkriegsdeutschland gelebt und später in der Schweiz.
Also, sie hat einiges durchgemacht, und sie war nicht unbedingt eine typische Frau für die damalige Zeit. Sie war eine selbstbewusste und gut beobachtende Frau. Ihre Kühle, Coolness, was man in diesem Buch so hervorgehoben hat bei ihr, ihr lakonischer Stil, die Distanz, das ist durchaus auch im Original schon da, und die historischen Ereignisse ohnehin.
Brinkmann: Wenn man es auf den Punkt bringt, würden Sie sagen, die literarisierte Ausgabe von 2003 ist aus zeithistorischer Perspektive doch wertlos, weil zu viel dramatisiert, weggelassen und neu hinzugefügt wurde?
Saal: Ich würde das so radikal nicht sagen. Aus quellenkritischer Perspektive ist das ursprüngliche Dokument, also die handschriftlichen Notizen, das absolut authentische. Aber das, was sie nach dem Krieg hinzugefügt hat, hat auch einen eigenen Wert für sich: Sie hat ihre Erlebnisse auf die Art und Weise bearbeitet, und das hat kein anderer gemacht, das hat sie gemacht. Insofern ist das auch ein Stück weit authentisch.
Aber man muss natürlich hier definieren: Was versteht man unter Authentizität? Ist es etwas Echtes, etwas Verbrieftes, was den Tatsachen entspricht, was glaubwürdig ist, was ungeschönt ist? Mit "ungeschönt" habe ich mehr Probleme, aber alle anderen Adjektive treffen zu, und man muss einfach hier differenzieren zwischen unterschiedlichen Zeitschichten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.