Anrührende Schicksale
Das Leben des Philosophen, Schriftstellers und Übersetzers Walter Benjamin ist weitgehend erforscht. Trotzdem versucht der Germanist Momme Brodersen mit einer Fotografie aus dem Jahr 1912, die Benjamin im Kreis seiner Mitschüler zeigt, die individuelle wie die Zeitgeschichte zu rekonstruieren.
"Die Freundlichkeitsbezeigungen der Welt finden sich an den härtesten Stellen des Daseins ein: bei der Geburt, beim ersten Schritt ins Leben und bei dem letzten, der aus dem Leben führt."
Der Satz stammt von Walter Benjamin und sollte für seinen Verfasser fast prophetische Qualität haben: Benjamin endete durch Suizid. Der jüdische Flüchtling im dem von Hitler besiegten Frankreich floh, vermittelt durch ein US-amerikanisches Hilfsunternehmen, über die Pyrenäen nach Spanien. Heil angelangt, überfiel ihn die Furcht, er könne an Nazi-Deutschland ausgeliefert werden. Am 26. September 1940 nahm er sich mit einer Überdosis Morphium das Leben.
Lange Jahre war sein Name nicht viel mehr als ein Geheimtipp. Der Ruhm begann 1968, da ihn der westdeutsche Studentenprotest als einen seiner Anreger entdeckte neben Adorno, Bloch, Marcuse, Kofler und Lukács. Sie alle vertraten marxistische Überzeugungen, wurden von der stalinistischen Orthodoxie im Ostblock gleichwohl abgelehnt und bekämpft. Im Falle Benjamin mochte zur Begründung dienen, dass seine Weltsicht auch theologisch fermentiert war, sein Freund Gerhard oder Gershom Scholem sah ihn gar als verkappten Zionisten. Benjamins ästhetische Vorlieben, von Paul Klee über Marcel Proust bis Charles Baudelaire, widersprachen ohnehin allen Regeln des Sozialistischen Realismus.
Einer von mehreren Biografen Benjamins ist der in Sizilien lebende und lehrende Momme Brodersen. Seiner Lebensbeschreibung von 2005 lässt er jetzt "Klassenbild mit Walter Benjamin" folgen. Dies handelt von dem Essayisten nur unter anderen, erzählt werden außerdem die Lebensläufe von Schülern, die 1912, vor genau hundert Jahren, gemeinsam mit Benjamin in die Abiturprüfung gingen. Schüler aus anderen Jahrgängen und ein paar Lehrer werden zusätzlich bedacht. Dies alles zeige –
"... die einschneidenden politischen Ereignisse und die gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche, die sozialen Veränderungen und den kulturellen Wandel vom Kaiserreich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein im Verfolg der einzelnen Lebensschicksale..."
Das Verfahren ist nicht ganz unüblich. Es gibt die monografische Darstellung von Bewohnern eines einzelnen Mietshauses, von Angehörigen einer bestimmten Militäreinheit, von Mitgliedern einer weitverzweigten Familie. Dergleichen ermöglicht Längsschnitte durch eine bestimmte geschichtliche Epoche. Brodersen konnte bei seiner Arbeit auf die reichlich erhaltenen Schulakten und allerlei Selbstzeugnisse zurückgreifen.
Das Gymnasium, an dem das Abitur erfolgte, hieß nach dem Preußenkaiser Friedrich und stand in der damals noch selbständigen Stadt Charlottenburg bei Berlin. Sie war keine althumanistische, sondern eine Realoberschule, erste Fremdsprache war das Französische, es gab naturwissenschaftlichen Unterricht, ein Rabbiner war Religionslehrer, der Reformpädagoge Gustav Wyneken durfte hier einen Vortrag halten. Man verhielt sich also liberal-progressiv, irgendwie, doch preußisch-vaterländisch war man auch.
"... hoch im Kurs standen: in erster Linie Zucht und Ordnung..."
sagt Brodersen. Die Bildungsvoraussetzungen der durchweg bürgerlichen Schüler waren unterschiedlich.
"... wer über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, konnte es sich leisten, den eigenen Kindern noch vor ihrer Einschulung auf einer öffentlichen Anstalt Privatunterricht angedeihen zu lassen... Welches Privileg ein solcher Unterricht, in stimulierender und angstfreier Atmosphäre, bedeuten konnte, hat Walter Benjamin ... festgehalten."
Ein Großteil aller Zöglinge der Anstalt kam aus jüdischen Familien. In Benjamins Abiturklasse waren das von insgesamt 22 Schülern dreizehn.
Bereits zwei Jahre nach ihrem Schulabschluss brach der Erste Weltkrieg aus. Die 22 meldeten sich durchweg freiwillig, einschließlich Benjamin, der seiner gesundheitlichen Defizite wegen jedoch nicht genommen wurde. Manche starben den Tod an der Front, andere wurden verwundet. Die Karrieren der Überlebenden führten durchweg in bürgerlich-akademische Milieus, es gab Anwälte und Ärzte; politisch waren von deutschnational bis linkssozialistisch viele Richtungen vertreten.
Einer der Absolventen wurde schon frühzeitig ein Anhänger Adolf Hitlers; von Beruf evangelischer Pfarrer, trug er beim Gottesdienst zum Talar gerne die SA-Uniform. Andere wurden braune Mitläufer, nach 1945 retteten sie sich in die Entnazifizierung, übrigens auch der Pfarrer mit der SA-Uniform. Den Juden gelang in der Mehrzahl die rechtzeitige Emigration, was, wie Benjamin beweist, das Überleben nicht garantierte. Der Schüler Tesch aus einer anderen Gymnasialklasse belieferte die Nazi-Vernichtungslager mit dem Gift Zyklon B, nach dem Krieg wurde er hingerichtet.
Brodersen schildert ein paar sehr anrührende Schicksale, etwa das des Rechtsanwaltes Richard Salomon:
"Im April 1933 mit Vertretungsverbot belegt, gelang ihm zunächst, die Zulassung sowohl als Rechtsanwalt wie auch als Notar wiederzuerlangen. Endgültiges Berufsverbot erhielt er dann jedoch 1935... Bereits 1937 von tiefen Depressionen befallen, von denen er sich nie wirklich mehr erholte, arbeitete Salomon in seinen letzten Lebensjahren noch als juristischer Konsulent. Im Dezember 1942 wurde er dann von einem Berliner Sammellager aus nach Auschwitz deportiert, wo sich seine Lebensspur verliert."
Das soziale Spektrum der vorgetragenen Lebensläufe, auch der jüdischen, ist vergleichsweise schmal. Durchweg handelt es sich um bürgerliche Existenzen, um ausschließlich männliche zudem. Vergleichbares ist in den letzten Jahrzehnten oft dokumentiert worden, in den Tagebüchern Victor Klemperers etwa oder in Marcel Reich-Ranickis Autobiografie, man weiß von Peter Gays fast problemlose Anwesenheit bis 1939 und seiner ebenso unspektakulären Emigration, selbst das extreme Schicksal der Gestapo-Kollaborateurin Stella Goldschlag fanden eine ausführliche Schilderung.
Alles lief hin auf das immer gleiche: Verlust. Den von Besitztümern, den von Möglichkeiten, den des Lebens. Verlust auch für die Zurückgebliebenen, die das Talent und die intellektuellen Potenzen der Fortgegangenen für immer entbehren mussten.
Brodersens Text liest sich spröde, der Tonfall ist protokollarisch-nüchtern. Das mag anfangs als ein ästhetischer Mangel erscheinen; kommt es dann zu den Umständen von Verfolgung und Emigration, zeigt der Stil sich als angemessen. Die reinen Fakten wirken stärker als alle sprachliche Empathie.
Momme Brodersen: Klassenbild mit Walter Benjamin - Eine Spurensuche
Siedler Verlag München, September 2012
Der Satz stammt von Walter Benjamin und sollte für seinen Verfasser fast prophetische Qualität haben: Benjamin endete durch Suizid. Der jüdische Flüchtling im dem von Hitler besiegten Frankreich floh, vermittelt durch ein US-amerikanisches Hilfsunternehmen, über die Pyrenäen nach Spanien. Heil angelangt, überfiel ihn die Furcht, er könne an Nazi-Deutschland ausgeliefert werden. Am 26. September 1940 nahm er sich mit einer Überdosis Morphium das Leben.
Lange Jahre war sein Name nicht viel mehr als ein Geheimtipp. Der Ruhm begann 1968, da ihn der westdeutsche Studentenprotest als einen seiner Anreger entdeckte neben Adorno, Bloch, Marcuse, Kofler und Lukács. Sie alle vertraten marxistische Überzeugungen, wurden von der stalinistischen Orthodoxie im Ostblock gleichwohl abgelehnt und bekämpft. Im Falle Benjamin mochte zur Begründung dienen, dass seine Weltsicht auch theologisch fermentiert war, sein Freund Gerhard oder Gershom Scholem sah ihn gar als verkappten Zionisten. Benjamins ästhetische Vorlieben, von Paul Klee über Marcel Proust bis Charles Baudelaire, widersprachen ohnehin allen Regeln des Sozialistischen Realismus.
Einer von mehreren Biografen Benjamins ist der in Sizilien lebende und lehrende Momme Brodersen. Seiner Lebensbeschreibung von 2005 lässt er jetzt "Klassenbild mit Walter Benjamin" folgen. Dies handelt von dem Essayisten nur unter anderen, erzählt werden außerdem die Lebensläufe von Schülern, die 1912, vor genau hundert Jahren, gemeinsam mit Benjamin in die Abiturprüfung gingen. Schüler aus anderen Jahrgängen und ein paar Lehrer werden zusätzlich bedacht. Dies alles zeige –
"... die einschneidenden politischen Ereignisse und die gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche, die sozialen Veränderungen und den kulturellen Wandel vom Kaiserreich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein im Verfolg der einzelnen Lebensschicksale..."
Das Verfahren ist nicht ganz unüblich. Es gibt die monografische Darstellung von Bewohnern eines einzelnen Mietshauses, von Angehörigen einer bestimmten Militäreinheit, von Mitgliedern einer weitverzweigten Familie. Dergleichen ermöglicht Längsschnitte durch eine bestimmte geschichtliche Epoche. Brodersen konnte bei seiner Arbeit auf die reichlich erhaltenen Schulakten und allerlei Selbstzeugnisse zurückgreifen.
Das Gymnasium, an dem das Abitur erfolgte, hieß nach dem Preußenkaiser Friedrich und stand in der damals noch selbständigen Stadt Charlottenburg bei Berlin. Sie war keine althumanistische, sondern eine Realoberschule, erste Fremdsprache war das Französische, es gab naturwissenschaftlichen Unterricht, ein Rabbiner war Religionslehrer, der Reformpädagoge Gustav Wyneken durfte hier einen Vortrag halten. Man verhielt sich also liberal-progressiv, irgendwie, doch preußisch-vaterländisch war man auch.
"... hoch im Kurs standen: in erster Linie Zucht und Ordnung..."
sagt Brodersen. Die Bildungsvoraussetzungen der durchweg bürgerlichen Schüler waren unterschiedlich.
"... wer über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, konnte es sich leisten, den eigenen Kindern noch vor ihrer Einschulung auf einer öffentlichen Anstalt Privatunterricht angedeihen zu lassen... Welches Privileg ein solcher Unterricht, in stimulierender und angstfreier Atmosphäre, bedeuten konnte, hat Walter Benjamin ... festgehalten."
Ein Großteil aller Zöglinge der Anstalt kam aus jüdischen Familien. In Benjamins Abiturklasse waren das von insgesamt 22 Schülern dreizehn.
Bereits zwei Jahre nach ihrem Schulabschluss brach der Erste Weltkrieg aus. Die 22 meldeten sich durchweg freiwillig, einschließlich Benjamin, der seiner gesundheitlichen Defizite wegen jedoch nicht genommen wurde. Manche starben den Tod an der Front, andere wurden verwundet. Die Karrieren der Überlebenden führten durchweg in bürgerlich-akademische Milieus, es gab Anwälte und Ärzte; politisch waren von deutschnational bis linkssozialistisch viele Richtungen vertreten.
Einer der Absolventen wurde schon frühzeitig ein Anhänger Adolf Hitlers; von Beruf evangelischer Pfarrer, trug er beim Gottesdienst zum Talar gerne die SA-Uniform. Andere wurden braune Mitläufer, nach 1945 retteten sie sich in die Entnazifizierung, übrigens auch der Pfarrer mit der SA-Uniform. Den Juden gelang in der Mehrzahl die rechtzeitige Emigration, was, wie Benjamin beweist, das Überleben nicht garantierte. Der Schüler Tesch aus einer anderen Gymnasialklasse belieferte die Nazi-Vernichtungslager mit dem Gift Zyklon B, nach dem Krieg wurde er hingerichtet.
Brodersen schildert ein paar sehr anrührende Schicksale, etwa das des Rechtsanwaltes Richard Salomon:
"Im April 1933 mit Vertretungsverbot belegt, gelang ihm zunächst, die Zulassung sowohl als Rechtsanwalt wie auch als Notar wiederzuerlangen. Endgültiges Berufsverbot erhielt er dann jedoch 1935... Bereits 1937 von tiefen Depressionen befallen, von denen er sich nie wirklich mehr erholte, arbeitete Salomon in seinen letzten Lebensjahren noch als juristischer Konsulent. Im Dezember 1942 wurde er dann von einem Berliner Sammellager aus nach Auschwitz deportiert, wo sich seine Lebensspur verliert."
Das soziale Spektrum der vorgetragenen Lebensläufe, auch der jüdischen, ist vergleichsweise schmal. Durchweg handelt es sich um bürgerliche Existenzen, um ausschließlich männliche zudem. Vergleichbares ist in den letzten Jahrzehnten oft dokumentiert worden, in den Tagebüchern Victor Klemperers etwa oder in Marcel Reich-Ranickis Autobiografie, man weiß von Peter Gays fast problemlose Anwesenheit bis 1939 und seiner ebenso unspektakulären Emigration, selbst das extreme Schicksal der Gestapo-Kollaborateurin Stella Goldschlag fanden eine ausführliche Schilderung.
Alles lief hin auf das immer gleiche: Verlust. Den von Besitztümern, den von Möglichkeiten, den des Lebens. Verlust auch für die Zurückgebliebenen, die das Talent und die intellektuellen Potenzen der Fortgegangenen für immer entbehren mussten.
Brodersens Text liest sich spröde, der Tonfall ist protokollarisch-nüchtern. Das mag anfangs als ein ästhetischer Mangel erscheinen; kommt es dann zu den Umständen von Verfolgung und Emigration, zeigt der Stil sich als angemessen. Die reinen Fakten wirken stärker als alle sprachliche Empathie.
Momme Brodersen: Klassenbild mit Walter Benjamin - Eine Spurensuche
Siedler Verlag München, September 2012