Anschreiben gegen die Allgegenwart des Todes

Die Kritiker sind sich einig, dass selbst die mehr als tausend überlieferten Briefe Emily Dickinsons nur ein Bruchteil ihrer Korrespondenz ausmachen; viele ihrer Briefe gingen verloren oder wurden vernichtet.
Für sie, die (in einem Gedicht) ihre Gedichte "Briefe an die Welt" nannte, war das Briefeschreiben offensichtlich eine lebensnotwendige Tätigkeit, vor allem wenn man bedenkt, dass sie sich zunehmend auf sich selbst (und in sich selbst) zurückzog – räumlich auf das Haus des Vaters, auf das Zimmer, das sie kaum noch verließ, um Gäste zu empfangen; metaphorisch auf den Innenraum des Bewusstseins, das ihr zur eigentlichen Welt wurde.

Dabei sind die frühen Briefe an ihren Bruder oder auch an den Kreis ihrer Jugendfreundinnen geistreich-verspielt, verliebt in die sinnlichen Details ihres kleinen Alltags und voll literarischer Anspielungen. Sie suchen ganz offensichtlich Geselligkeit und persönliche Nähe. Dickinsons Intensität verlangt jedoch eine Zuneigung und kommunikative Hingabe, die Verletzungen geradezu herausfordert.

Ihre Briefe sind unbedingt in ihrem Anspruch und erschrecken fast in ihrer Leidenschaftlichkeit: "Sue – bleib oder geh – Es gibt nur eine Wahl!" schreibt sie an eine geliebte Freundin, die später Schwägerin wird. "Ich finde Freunde traurig – sie brechen einem stets das Herz – und doch – gäbe es keine – wäre das Herz aus dem Geschäft." Ihr wohlmeinender, wenn auch überforderter, Mentor, der Schriftsteller und Kritiker Thomas Wentworth Higginson, schreibt über sie in einem Brief an seine Frau (nach dem ersten von zwei Besuch in Amherst): "Nie habe ich mit einem Menschen Zeit verbracht, der mich derart viel Kraft kostete ... Ich bin froh, dass ich nicht in ihrer Nähe lebe."

Die verbleibenden Freunde kann sie – wie sie sagt – an den Händen zählen. Ihr Schreiben – in Briefen wie Gedichten – ist ein Schreiben gegen Alleinsein und Verlust. Dennoch ist das Leben, das sie der Einsamkeit wie auch dem Sterben, von dem sie sich umgeben fühlt, abgewinnt, ein "ausgesuchter Zauber". Emily Dickinson verweigert sich der designierten Frauenrolle ebenso wie der Religion: "Sie alle glauben – außer mir", schreibt sie von ihrer Familie, "und ehren eine Eklipse, am Morgen – die sie ‚Vater’ rufen". Sie ist eine vehemente, leidenschaftliche Rebellin, die selbst in den vier Wänden ihres Zimmers, das Leben ekstatisch erfährt.

Sie erforscht ihre innere Welt und ihr Bewusstsein bis an die Grenzen des Selbstverlöschens: "Ich schaffe, um den Schauder auszutreiben, der Schauder aber treibt das Schaffen an." Am Beginn der kreativsten Phase ihres Lebens – die in die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs fällt: als ob ihre Dichtung ein Anschreiben gegen die Allgegenwart des Todes ist – stehen drei geheimnisvolle Briefe, die möglicherweise nie abgeschickt wurden. Sie sind an einen namenlosen Adressaten gerichtet, den sie "Meister" nennt und dessen Identität wohl immer unbekannt bleiben wird.

Diese Briefe quälender Leidenschaft und Unterwerfung sind chiffrenhaft verdichtet, rätselhaft elliptisch, voller Gedankenstriche, die – wie in den Gedichten – Risse markieren, die das Ungesagte nur ahnen lassen. Von da an verbindet Dickinson das Schreiben von Briefen und Gedichten immer enger miteinander – bis in den letzten Dekaden ihres Lebens das Briefeschreiben zu einem Modus ihres Dichtens wird. Die Manuskripte der von Johnson zur Strophenform geordneten Gedichte sind optisch von den Briefen kaum noch zu unterscheiden: Das Schreiben als formoffene kreative Tätigkeit ist für Dickinson so sehr zum Lebensinhalt geworden, dass selbst ihr letzter Brief (im Mai 1886, wenige Tage vor ihrem Tod verfasst) wie Dichtung klingt: "Little Cousins, Called Back. Emily."

Die Briefe sind vorzüglich ausgewählt und übersetzt. Uda Strätling gelingt es, vielleicht gerade durch den Zwang zur Auswahl zu verdeutlichen, wie Dickinsons Briefe immer mehr zum "Schau-Platz" ihres Schreibens werden, zum wesentlichen Teil ihres dichterischen Werks. Der Band ist zudem hilfreich kommentiert und liefert, zusammen mit dem chronologischen Rahmen der Dickinsonschen Lebens- und Familiengeschichte, eine bebilderte Kurzbiographie der Adressaten.

Er bietet außerdem ein kenntnisreiches Vorwort und ein erklärendes Nachwort sowie eine nützliche Bibliographie, die der Leserin die weiterführende Lektüre erleichtern wird. Vor allem aber vermag die Übersetzerin, den "Ton" der Dichterin zu treffen, jenen angespannten und doch spielerischen Schreibstil aufgebrochener Syntax und bildschöpferischer Sprachintensität, den der skeptische Higginson für "dunkel", "maßlos und "unrastig" ("spasmodic") hielt, an dem jedoch Dickinson (als "einziges Känguru im Schönen") kein Jota ändern wollte.

Der Titel, "Wilde Nächte" - der Anfang eines ihrer Liebesgedichte – könnte zwar nicht mit Dickinson vertraute Leser auf eine falsche Fährte locken, weist aber auf die rauschhafte Geistigkeit dieser wunderbaren Dichterin, deren tiefste Leidenschaft dem Wort galt – jenem "Meister", dem sie bedingungslos ihr Leben unterworfen hatte. Sie, die sich in schmerzhafter Selbstironie vor ihrer Welt klein machte, war sich ihrer zukünftigen Größe so sicher, dass sie auf das Drängen ihrer Freunde, doch bitte ihre Gedichte zu veröffentlichen, gelassen meinte, wenn ihr denn Ruhm bestimmt sei, werde sie ihm nicht entkommen können.


Rezensiert von Heinz Ickstadt

Emily Dickinson: Wilde Nächte – Ein Leben in Briefen
Ausgewählt und übersetzt von Uda Strätling.
S. Fischer, Frankfurt 2006, 430 Seiten, 24.90 Euro