Der vergessene Entdecker des Evolutionsprinzips
Ist nicht Darwin der Schöpfer der Evolutionstheorie, sondern Alfred Russel Wallace? Mit dieser Frage spielt der Roman "Wallace" – der britische Naturforscher gehöre mit auf den Thron, auf dem Darwin seit langem sitze, sagt der Autor Anselm Oelze.
Frank Meyer: Könnte man Charles Darwin vom Thron stoßen, von seinem Thron als Entdecker des Evolutionsprinzips, und könnte man statt Darwin Alfred Russel Wallace auf diesen Thron setzen? Mit dieser Frage spielt der Roman "Wallace" von Anselm Oelze. Das ist sein erster Roman, Anselm Oelze ist Jahrgang 1986, er hat Philosophie, Politikwissenschaft und philosophische Theologie studiert.
Können Sie uns vielleicht zum Einstieg in aller Kürze mal erklären, warum man jetzt nicht Darwin, sondern Wallace ansehen sollte als Entdecker des Evolutionsprinzips, also eines der wichtigsten Prinzipien überhaupt in der Biologie, oder ob man, warum man sie vielleicht zusammen als Entdecker würdigen sollte?
Oelze: Ja, das wollte ich gerade sagen, dass man gar nicht unbedingt Darwin vom Thron stürzen muss, sondern dass man Wallace mit dazu setzen müsste auf den Thron, auf dem Darwin schon seit vielen Jahrzehnten sitzt, denn Alfred Wallace hat eben zur gleichen Zeit wie Darwin und unabhängig von Darwin auch den Mechanismus der natürlichen Selektion entdeckt, und insofern gebührt eben auch ihm eigentlich ein Stück des Ruhms, den bisher zu großen Teilen fast ausschließlich Darwin abbekommen hat.
Meyer: Aber wenn ich Ihr Buch richtig verstanden habe, war Wallace doch auch ein bisschen früher dran und hat dann Darwin darüber informiert, dass er das eigentlich schon herausbekommen hat, und man kann es auch so verstehen, dass Darwin Wallace den Ruhm geklaut hat.
Oelze: Ja, die Sache ist ein bisschen diffiziler. Es ist so, dass Charles Darwin 14 Jahre vor Wallace geboren worden ist. Er hatte schon also von der Geburt her ein wenig Vorsprung. Und insofern verwundert es auch nicht, dass er schon eher an der Theorie gearbeitet hat, die lag damals gewissermaßen auch in der Luft zu der Zeit. Und die Sache bei Darwin war einfach die: Er hat noch nichts veröffentlicht gehabt zu dem Zeitpunkt, als auch Alfred Wallace auf den Mechanismus der natürlichen Selektion stieß. Und Wallace schickte ihm also einen Aufsatz aus dem malaiischen Archipel, wo er sich gerade aufhielt, mit seiner Entdeckung. Beide wussten voneinander nicht, dass sie gewissermaßen darauf gestoßen waren, und Darwin war entsprechend schockiert, als er in einem Aufsatz von Wallace las, dass dieser nun auch seine Theorie entdeckt hatte, zu der er noch nichts veröffentlicht hatte bisher.
"Ich hatte nie vor, Romane zu schreiben"
Meyer: Hätte er als Gentleman und Anhänger des Fair Play eigentlich sagen können, jetzt muss Wallace an die Öffentlichkeit mit seiner Entdeckung, und ich bin halt als Zweiter dran – aber hat er nicht so gemacht. Das ist zweifellos eine spannende Geschichte, nicht ganz so unbekannt. Es gab vor sechs Jahren eine Wallace-Biografie von dem Biologen Matthias Glaubrecht, die ist damals auch viel beachtet und besprochen worden. Im englischsprachigen Raum ist einiges zu Wallace erschienen auch vor einigen Jahren. Warum wollten Sie jetzt über den Mann schreiben in Ihrem ersten Roman?
Oelze: Also ursprünglich begann die Idee gar nicht mit einer Romanidee. Ich hatte nie vor, Romane zu schreiben. Ich habe aber zu Beginn meines Studiums, aus welchen Gründen auch immer, mal eine Liste angelegt mit genau solchen Fällen wie dem von Darwin und Wallace, wo in der Wissenschaftsgeschichte zwei Personen unabhängig voneinander eine große Entdeckung gemacht haben, aber nur einer von beiden ist bekannt geworden.
Und als ich mich dann ein paar Jahre, nachdem ich diese Idee gehabt hatte, zum ersten Mal wieder an diese Idee erinnerte und ein bisschen zu recherchieren begann, da faszinierte mich Wallace sofort aufgrund der Ironie des Schicksals, die bei ihm da mitspielt insofern, als er sich eben zeitlebens mit der Frage beschäftigt hat, warum sind die Dinge so, wie sie sind, warum haben die einen Erfolg und die anderen haben keinen Erfolg, und er hat diese Frage ja perfekt beantwortet mit Blick auf Arten. Nun kann man sich diese Frage auch mit Blick auf sein eigenes Leben stellen.
Warum hat er eben keinen Erfolg gehabt? Er hat ja aus dieser Erkenntnis für andere gewissermaßen keinen Profit für sich selbst schlagen können. Und das hat mich sehr fasziniert, und für mich stand eigentlich gleich diese Romanfigur Wallace direkt vor Augen, und so habe ich auch unmittelbar angefangen.
Meyer: Jetzt erzählen Sie in ihrem Buch auf zwei Ebenen. Auf der einen erfährt man ausschnitthaft von Wallace‘ Leben, von seinen Forschungen, auch von dieser Geschichte, wie er mit Darwin in Kontakt war, und auf der anderen Ebene geht es um einen Museumsnachtwächter unserer Tage, Albrecht Bromberg heißt der, der buchstäblich über Wallace‘ Geschichte stolpert, also in ein Buch quasi hineinfällt mit Wallace‘ Geschichte. Welche Rolle spielt denn der Nachtwächter aus Ihrer Sicht für die Konstruktion Ihres Romans?
Oelze: Ja, es hätte ja durchaus auch die Möglichkeit gegeben, einen rein historischen Roman zu schreiben, ja, nur auf der Ebene von Alfred Wallace zu erzählen. Das hätte mir aber nicht die Möglichkeit gegeben, bestimmte Fragen zu verhandeln, die man durchaus erst aus der Gegenwart heraus sich stellt, indem wir heute auf eine Figur wie Alfred Wallace blicken und uns Fragen stellen wie zum Beispiel, wie fühlt sich so jemand in diesem Moment, wie funktioniert überhaupt Geschichtsschreibung, auch solche Fragen, wie kann man Geschichte rückwirkend wieder verändern, auch schreibend zum Beispiel?
All diese Fragen konnte ich auf einer Gegenwartsebene noch viel besser überhaupt erst mal zur Diskussion stellen. Und der Albrecht Bromberg ist ja gewissermaßen auch analog zu Alfred Wallace auch eine Schattenfigur, könnte man sagen, ja, der fristet sein Nachtwächter-Dasein, und es gibt zunächst mal gar nicht über ihn vielleicht so viel zu erzählen, wie man meint.
Meyer: Bis er dann mit Wallace zu tun bekommt. Jetzt haben Sie Ihrem Buch so einen teils märchenhaften, teils auch so einen bisschen anachronistischen Ton gegeben. Da wird man auch bei den Kapitelüberschriften schon drauf eingestimmt. Erstes Kapitel: "In welchem der Nachtwächer Alfred Bromberg ein Buch auf die Füße fällt und die Geschichte ihren Lauf zu nehmen beginnt", so leiten Sie das erste Kapitel eben ein. Warum haben Sie sich für diese Art Ton entschieden?
Oelze: Ja, jetzt kann ich eine offizielle und eine inoffizielle Antwort geben. Die offizielle wäre jetzt sozusagen: Literaturwissenschaftlich kann man das als ein Element der sogenannten Herausgeberfiktion werten, also auch als ein Element im Spiel mit Fakten und Fiktion, was ja dieser Roman zweifelsohne tut.
Die inoffizielle Antwort ist schlicht und ergreifend: Es hat mir gefallen in anderen Romanen, wo das so gemacht wird. Das hat historisch natürlich eine lange Tradition. Insbesondere in den Briefromanen des 18. Jahrhunderts wird es dann eben stark verwendet. Es hat mir schlicht und ergreifend gefallen und aus einem gewissen schriftstellerischen Bauchgefühl heraus, könnte man sagen, habe ich dieses Element bei mir auch eingebaut.
Meyer: Ich dachte beim Lesen, auch dieser, ja, vielleicht auch ans Märchenhafte grenzende Ton, weil diese Idee, die Ihrem Roman ja auch zugrunde liegt, auch was Traumhaftes oder Märchenhaftes hat, ja. Wir sorgen von heute aus für Gerechtigkeit, für Wallace, für den Übersehenen, vom Leben an den Rand Gestellten. Könnte das auch ein Grund sein?
Oelze Ich hätte nichts dagegen, das auch so lesen zu lassen. Das ist ja das Schöne an so einem Buch, man schreibt das, und dann gibt man es raus in die Welt an die Leserinnen und Leser und die dürfen sich dann da durchaus auch ihre eigenen Vorstellungen machen selbstverständlich.
Faszination lag in der Figur von Wallace
Meyer: Was halten Sie überhaupt grundsätzlich von dieser Idee auch als Philosoph, der Sie ja sind, Sie lehren Philosophie in München, von der Idee, von heute aus historische Ungerechtigkeiten korrigieren zu wollen?
Oelze: Die Frage ist ja zunächst mal, wer was überhaupt als historische Ungerechtigkeiten bewertet. Man kann ja auch das Ganze ganz nüchtern, wissenschaftshistorisch betrachten und sagen, so ist die Geschichte nun einmal passiert. Die interessante Frage ist ja aber eben auch: Ist diese Trennung überhaupt möglich zwischen einer Geschichte als dem, was geschehen ist, und einer Geschichte, wie sie dann geschrieben wird?
Aristoteles hat in seiner Poetik mal formuliert, dass die Geschichtsschreiber zuständig sind dafür, mitzuteilen, wie es wirklich gewesen ist, und die Schriftsteller dafür zuständig sind, zu schreiben, wie es gewesen sein könnte. Ich habe natürlich Letzteres getan. Gleichwohl kann man auch sagen: Auch Geschichtsschreibung ist eben eine Schreibung, eine Art, Geschichte in Worte zu fassen. Und insofern sind es immer Personen, die das tun, die vielleicht nicht ganz unabhängig von den Geschehnissen arbeiten.
Meyer: Da sind wir beim Fiktiven. Interessant ist ja die Verschränkung dann mit der Wissenschaft, um die es geht in Ihrem Buch. Und es ist ja interessant, dass Sie jetzt an so einen Anfang der Wissenschaftsgeschichte gehen, als eben dieses Evolutionsprinzip entdeckt wurde - heute in einer Zeit, wo die Wissenschaftsskeptiker ja immer mehr Boden gewinnen. War das für Sie auch ein Antrieb, sich so einen Stoff herauszusuchen?
Oelze: Nein. Es war wirklich zunächst mal ganz allein diese Faszination, die in der Figur von Wallace lag, und natürlich auch, dass das gerade bei einer so großen, nach wie vor sehr bedeutenden Theorie wie der Evolutionstheorie der Fall ist. Man hätte sich natürlich auch andere Fälle nehmen können aus der Wissenschaftsgeschichte. Gerade bei der Evolutionstheorie ist es ja nun so, jeder kennt sie, jeder kennt auch Darwin, schon allein aus dem Biologieunterricht aus der Schule, fast niemand kennt Wallace - und das hat für mich den Reiz ausgemacht, genau darüber zu schreiben.
Meyer: Es ist schade, weil es gibt auch ein anderes Debut, das sich mit einem Wissenschaftler auseinandersetzt, "Babel" von Kenah Cusanit, da geht es um ein ganz anderes Gebiet, die Archäologie. Wir hätten jetzt schön einen Trend begründen können, wenn Sie mitgespielt hätten, junge Autoren schreiben heute über Wissenschaftler.
Aber vielleicht auf andere Weise: Sie hatten ja erzählt, dass Sie so eine ganze Themensammlung haben von solchen Paaren. Was stellen Sie sich vor für das nächste, das zweite Buch? Könnte es wieder um Wissenschaften gehen oder dann ganz was anderes?
Oelze: Es wird auch um Wissenschaft gehen, aber gar nicht in diesem Sinne, in dem es das jetzt bei "Wallace" geht. Es wird keine historische Ebene geben, mehr werde ich jetzt noch nicht verraten. Es wird auf jeden Fall ein nächstes Buch geben. So wie "Wallace" wird es nicht aussehen, das ist ja jetzt geschrieben.
Meyer: Aber der Teil mit dem nächsten Buch ist ja schon mal die gute Nachricht von Anselm Oelze, "Wallace" heißt sein erster Roman, im Schöffling Verlag ist der jetzt erschienen, er hat 260 Seiten und kostet 22 Euro.
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