Anstellen, bis der Arzt kommt
Eigentlich hat jeder Mensch, der auf Dauer in Portugal lebt, das verbriefte Recht auf kostenlose medizinische Versorgung. Tatsächlich herrscht in den staatlichen Gesundheitszentren und Krankenhäusern seit Jahren vor allem eines: der Mangel.
"Guten Tag, Isabel. Gucken Sie doch nicht so traurig", begrüßt Lucilia Martinho eine Patientin. Die wievielte es an diesem Tag ist, weiß die Direktorin der staatlichen Poliklinik im Lissabonner Stadtteil Carnide schon nicht mehr. Gerade einmal fünf Mediziner sind hier im Schichtdienst für die Gesundheit von mehr als 10.000 Einwohnern zuständig. Da hat die Endvierzigerin alle Hände voll zu tun.
Draußen im Warteraum des schlichten Fertigbau-Gesundheitszentrums sitzen mehr als 20 Patienten auf Plastikbänken, wie sie auch an Bushaltestellen stehen. Die Poliklinik am Ortsrand war eigentlich als Provisorium gedacht, erklärt die Ärztin:
"Die Patienten können dieses Gesundheitszentrum nur schwer erreichen. Wir warten auf einen lang versprochenen Neubau, zu dem dann auch Busse fahren."
Doch Portugals staatlicher Gesundheitsdienst SNS hat kein Geld und angesichts der Finanzkrise gibt es wenig Hoffnung auf Besserung. Niemand weiß, wann die neue Poliklinik gebaut wird. Dabei bräuchte Lucilia Martinho viel mehr Ärzte und Behandlungsräume. Selbst für einfache Analysen oder Röntgenaufnahmen fehle die Ausrüstung.
Portugals Gesundheitssystem ist krank – schwer krank: Da warten Patienten jahrelang auf dringend nötige Operationen, fehlen Ärzte und Pflegepersonal, müssen die Bürger – obwohl der Gesundheitsdienst eigentlich kostenlos sein sollte – immer mehr zu Behandlungen und Medikamenten zuzahlen. Lucilia Martinho stellt eine vernichtende Diagnose:
"Viele Gesundheitszentren sind unzureichend ausgerüstet. Viele Leute haben nicht einmal einen Hausarzt, weil es nicht genug Ärzte gibt."
Dabei ist das Recht auf Gesundheit in Portugal in der Verfassung festgeschrieben. Vor 30 Jahren wurde der durch Steuern finanzierte staatliche Gesundheitsdienst gegründet. Ähnlich wie in Großbritannien gibt es in Portugal keine Krankenversicherung.
Der Gesundheitsdienst SNS ist dem Gesundheitsministerium angegliedert. Er unterhält Krankenhäuser und Polikliniken, stellt Ärzte und Pflegepersonal ein. Das Geld für die Kosten – im vergangenen Jahr rund neun Milliarden Euro - kommt aus dem Staatshaushalt. António Arnault, damals der für die Einführung verantwortliche Minister:
"Der Nationale Gesundheitsdienst funktioniert nach einem der edelsten, menschlichsten Grundsätze – nach dem Prinzip der Solidarität: Die, die nicht können, müssen nichts bezahlen. Sie werden behandelt wie alle anderen. Und wer mehr hat, bezahlt auch mehr. Das ist nicht einmal ein politisches Prinzip, sondern ein ethisches."
Nur wird dieses Prinzip immer mehr infrage gestellt. Vor allem angesichts der langen Wartezeiten in staatlichen Krankenhäusern und Polikliniken schließen immer mehr Portugiesen zusätzliche private Krankenversicherungen ab. Wie Carla Ferreira aus der mittelportugiesischen Kreisstadt Leiria:
"Da muss ich nicht so lange warten und die Ärzte nehmen sich mehr Zeit, auf die Patienten einzugehen. Es lohnt sich, privat versichert zu sein. Auch wenn es teurer ist, ist das in den meisten Fällen besser."
Zwischen 200 und 800 Euro im Monat kosten solche Versicherungen für eine Familie mit einem Kind, je nach Leistung und Alter. Eigentlich sehr viel Geld, gibt Carla Ferreira zu.
Doch statt im überfüllten Wartezimmer der staatlichen Poliklinik sitzt sie entspannt in der schicken Caferaria des privaten São-Francisco-Krankenhauses, während sie auf ihren Arzttermin wartet. Schließlich drehe sich hier alles um das Wohlbefinden der Patienten, versichert Klinikchef António Évora:
"Damit der private Gesundheitsbereich überleben kann und rentabel ist, muss er exzellente Leistungen bieten. Diese Exzellenz basiert auf vier Pfeilern: Erstens muss die Behandlung schnell sein. Zweitens muss jeder Kunde, der zu uns kommt, sich gut betreut fühlen. Drittens müssen wir technisch gut ausgerüstet sein. Und viertens müssen wir eine allumfassende Versorgung bieten."
Darum gibt es im São-Francisco-Krankenhaus nicht nur zwei ultramoderne OP-Blöcke, teure Computer-Diagnosegeräte und Fachärzte fast aller Bereiche, sondern auch eine Schönheitschirurgie, einen Wellnessbereich mit persönlichen Fitnesstrainern und einen edlen Friseursalon. Gesundheit ist zum Geschäft geworden, zu einem guten obendrein, gibt António Évora unumwunden zu:
"Ohne Gewinn zu machen, wäre das hier alles nicht möglich. Ein Unternehmen, das nicht rentabel ist, geht irgendwann bankrott. Daher muss das erste Ziel sein, Gewinn zu machen. Würden wir nichts verdienen, wären nicht nur die Aktionäre unzufrieden. Dann könnten wir weder die Löhne nicht bezahlen noch in die Ausrüstung investieren. Selbstverständlich ist das erste Ziel Gewinn und dieses Krankenhaus macht Gewinn."
Mehr und mehr Privatkliniken werben inzwischen in Portugal im Internet um Kunden. Banken bieten ihren Klienten Gesundheitspolicen zu Sonderkonditionen. Portugal gibt rund zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für den Gesundheitsbereich aus. Da wollen die Privaten natürlich kräftig mitverdienen, stellt Ex-Gesundheitsminister António Arnault fest:
"Natürlich gibt es große wirtschaftliche Interessen. Das sind ja nicht nur Versicherungsgesellschaften, sondern auch wahre Gesundheitskonzerne. Inzwischen gibt es im Land mehr private Krankenhäuser als zu Zeiten der Diktatur! Denen gefällt nicht, dass der Staat die Hauptverantwortung für den Gesundheitsbereich trägt."
Bis in die 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde in Portugal nur ärztlich behandelt, wer dafür zahlen konnte. Der staatliche Gesundheitsdienst gehörte zu den wichtigsten Errungenschaften der portugiesischen Nelkenrevolution, erinnert der inzwischen weit über 80 Jahre alte Mitbegründer der Sozialistischen Partei, António Arnault.
Streitbar hat er sich immer wieder für das von ihm geschaffene System eingesetzt, es gegen wiederkehrende Angriffe verteidigt. Gerade in Krisenzeiten wie jetzt sei der staatliche Gesundheitsdienst besonders wichtig: Einerseits wachse die Zahl der Arbeitslosen, die sich keine Versicherung leisten können, immer mehr. Andererseits habe auch die sowieso eher kleine portugiesische Mittelschicht, die Zielgruppe der Privaten, immer weniger Geld.
António Arnault: "Ohne staatliche Krankenversorgung hätten wir noch größere Probleme! Wenn die Wirtschaft zusammenbricht, kann doch niemand zusätzlich Geld für die Gesundheit ausgeben. Darum muss dieses System unbedingt erhalten werden."
Probleme haben kranke Portugiesen in der Tat schon genug: die Rentnerin Emilia Pedro etwa, die seit knapp zwei Stunden geduldig auf den harten Plastikbänken im überfüllten Wartezimmer der staatlichen Poliklinik von Carnide sitzt. Sie bekommt nicht einmal 500 Euro Rente im Monat. Für sie werden inzwischen selbst die Leistungen des staatlichen Systems zum Luxus:
"Ich habe Bluthochdruck, muss täglich vier verschiedene Medikamente nehmen. Ohne die würde ich nicht überleben. Zu jedem Rezept muss ich 30 Euro zuzahlen. Das ist hart."
Immerhin bekommt sie heute einen Arzttermin. Anders als ihre Bekannte Maxima Caetano, die trotz ihres hohen Alters heute vergeblich in die Praxis gekommen ist. Bei Routineuntersuchungen, heißt es in der Poliklinik, könnten die Patienten auch mal länger warten und ohne Behandlung nach Hause geschickt werden.
Maxima Caetano: "Früher hat der Gesundheitsdienst ja ganz gut funktioniert. Aber jetzt ist es schlimm. Ich bin 81 Jahre alt, wohne weit entfernt und muss zu Fuß hierher kommen. Nun habe ich nur einen Termin für nächsten Monat bekommen! Erst Ende nächsten Monats! So lang muss ich jetzt warten."
Lucilia Martinho, die Leiterin des Gesundheitszentrums, weiß um diese Probleme. In manchen Bereichen sei der staatliche Gesundheitsdienst völlig unzureichend ausgestattet. Die engagierte Ärztin macht daraus kein Hehl, nennt als Beispiel gerade für alte Menschen notwendige Hüftoperationen:
"Die Wartezeiten in der Orthopädie etwa sind absurd. In staatlichen Krankenhäusern können sie manchmal Jahre betragen! Wir versuchen, das Problem durch ein Abkommen mit einer Privatklinik zu lösen. Die gehört dem Roten Kreuz und kann die Patienten in etwas weniger als einem Jahr behandeln."
Privatkrankenhäuser, die Dienstleistungen für den staatlichen Gesundheitsdienst erbringen, sind inzwischen zu festen Bestandteilen des portugiesischen Systems geworden. Zu festgelegten Tarifen und als Ergänzung. Auch die Privatklinik São Francisco in der Kreisstadt Leiria in Mittelportugal erwirtschaftet auf diese Weise rund ein Drittel ihres Umsatzes. Doch die Privaten wollen mehr, erklärt Klinikchef António Évora:
"Die Privaten sollten mit dem staatlichen Gesundheitsdienst konkurrieren. Die Patienten müssten entscheiden dürfen, wo sie sich behandeln lassen. Wir alle hätten nur Vorteile, wenn es eine wirkliche Konkurrenz gäbe."
Genau das Gegenteil befürchten die Befürworter des staatlichen Gesundheitsdienstes. Private, auf Gewinn ausgerichtete Gesundheitsanbieter würden zu einem Zweiklassensystem führen, garantiert der Ex-Minister António Arnault:
"Der Staat muss die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung der Bürger übernehmen. Nur so kann das System gerecht sein. Wenn Gesundheit den Patienten Geld kostet, können die sozial Schwächeren sie nicht bezahlen und bleiben auf der Strecke."
Vor allem könnte schon eine Teilprivatisierung des Gesundheitssystems den portugiesischen Staat noch teurer kommen, als der so viel gescholtene staatliche Gesundheitsdienst. Denn die privaten Krankenversicherungen weigern sich hartnäckig, langwierige und teure Behandlungen zu übernehmen. Lucilia Martinho, die Leiterin der Poliklinik von Carnide, über eine gängige Praxis:
"Bei Krebserkrankungen führen die Privaten die einfache und lukrative Operation zwar schneller durch. Aber die notwendige und extrem teure Chemotherapie wird nicht bezahlt. Da kommen die Patienten dann wieder zu uns, um weiterbehandelt zu werden."
Inzwischen ist es fast sieben Uhr abends geworden. Noch immer sitzen Patienten auf den Plastikstühlen im Wartezimmer der staatlichen Poliklinik von Carnide. Noch immer behandelt Lucilia Martinho. Auf die Idee, wie viele ihrer Kollegen in ein Privatkrankenhaus zu wechseln, ist die Ärztin nie gekommen. Obwohl sie dort mehr verdienen würde. Lucilia Martinho glaubt an ihre Arbeit:
"Ich bin eine überzeugte Anhängerin dieses staatlichen Gesundheitssystems. Natürlich muss es in vielen Bereichen verbessert werden. Aber das Prinzip ist gut, wir dürfen es auf keinen Fall aufgeben. Alle Patienten gleich gut zu behandeln, ist ein Grundsatz, den wir auf keinen Fall vergessen dürfen."
Die Diskussionen über die Zukunft des Gesundheitssystems in Portugal werden trotzdem weitergehen. Denn die Kosten steigen mit der wachsenden Lebenserwartung weiter. Gleichzeitig muss der Staat hart sparen.
Schon jetzt hat Portugals Finanzminister auch Kürzungen im Gesundheitsbereich angekündigt, um die EU-Verschuldungskriterien einzuhalten. Und die Gesundheitsministerin weiß nicht, wo sie den Rotstift ansetzen soll. Denn mit noch weniger Geld würde der in der Verfassung festgeschriebene staatliche Gesundheitsdienst SNS wahrscheinlich zusammenbrechen.
Draußen im Warteraum des schlichten Fertigbau-Gesundheitszentrums sitzen mehr als 20 Patienten auf Plastikbänken, wie sie auch an Bushaltestellen stehen. Die Poliklinik am Ortsrand war eigentlich als Provisorium gedacht, erklärt die Ärztin:
"Die Patienten können dieses Gesundheitszentrum nur schwer erreichen. Wir warten auf einen lang versprochenen Neubau, zu dem dann auch Busse fahren."
Doch Portugals staatlicher Gesundheitsdienst SNS hat kein Geld und angesichts der Finanzkrise gibt es wenig Hoffnung auf Besserung. Niemand weiß, wann die neue Poliklinik gebaut wird. Dabei bräuchte Lucilia Martinho viel mehr Ärzte und Behandlungsräume. Selbst für einfache Analysen oder Röntgenaufnahmen fehle die Ausrüstung.
Portugals Gesundheitssystem ist krank – schwer krank: Da warten Patienten jahrelang auf dringend nötige Operationen, fehlen Ärzte und Pflegepersonal, müssen die Bürger – obwohl der Gesundheitsdienst eigentlich kostenlos sein sollte – immer mehr zu Behandlungen und Medikamenten zuzahlen. Lucilia Martinho stellt eine vernichtende Diagnose:
"Viele Gesundheitszentren sind unzureichend ausgerüstet. Viele Leute haben nicht einmal einen Hausarzt, weil es nicht genug Ärzte gibt."
Dabei ist das Recht auf Gesundheit in Portugal in der Verfassung festgeschrieben. Vor 30 Jahren wurde der durch Steuern finanzierte staatliche Gesundheitsdienst gegründet. Ähnlich wie in Großbritannien gibt es in Portugal keine Krankenversicherung.
Der Gesundheitsdienst SNS ist dem Gesundheitsministerium angegliedert. Er unterhält Krankenhäuser und Polikliniken, stellt Ärzte und Pflegepersonal ein. Das Geld für die Kosten – im vergangenen Jahr rund neun Milliarden Euro - kommt aus dem Staatshaushalt. António Arnault, damals der für die Einführung verantwortliche Minister:
"Der Nationale Gesundheitsdienst funktioniert nach einem der edelsten, menschlichsten Grundsätze – nach dem Prinzip der Solidarität: Die, die nicht können, müssen nichts bezahlen. Sie werden behandelt wie alle anderen. Und wer mehr hat, bezahlt auch mehr. Das ist nicht einmal ein politisches Prinzip, sondern ein ethisches."
Nur wird dieses Prinzip immer mehr infrage gestellt. Vor allem angesichts der langen Wartezeiten in staatlichen Krankenhäusern und Polikliniken schließen immer mehr Portugiesen zusätzliche private Krankenversicherungen ab. Wie Carla Ferreira aus der mittelportugiesischen Kreisstadt Leiria:
"Da muss ich nicht so lange warten und die Ärzte nehmen sich mehr Zeit, auf die Patienten einzugehen. Es lohnt sich, privat versichert zu sein. Auch wenn es teurer ist, ist das in den meisten Fällen besser."
Zwischen 200 und 800 Euro im Monat kosten solche Versicherungen für eine Familie mit einem Kind, je nach Leistung und Alter. Eigentlich sehr viel Geld, gibt Carla Ferreira zu.
Doch statt im überfüllten Wartezimmer der staatlichen Poliklinik sitzt sie entspannt in der schicken Caferaria des privaten São-Francisco-Krankenhauses, während sie auf ihren Arzttermin wartet. Schließlich drehe sich hier alles um das Wohlbefinden der Patienten, versichert Klinikchef António Évora:
"Damit der private Gesundheitsbereich überleben kann und rentabel ist, muss er exzellente Leistungen bieten. Diese Exzellenz basiert auf vier Pfeilern: Erstens muss die Behandlung schnell sein. Zweitens muss jeder Kunde, der zu uns kommt, sich gut betreut fühlen. Drittens müssen wir technisch gut ausgerüstet sein. Und viertens müssen wir eine allumfassende Versorgung bieten."
Darum gibt es im São-Francisco-Krankenhaus nicht nur zwei ultramoderne OP-Blöcke, teure Computer-Diagnosegeräte und Fachärzte fast aller Bereiche, sondern auch eine Schönheitschirurgie, einen Wellnessbereich mit persönlichen Fitnesstrainern und einen edlen Friseursalon. Gesundheit ist zum Geschäft geworden, zu einem guten obendrein, gibt António Évora unumwunden zu:
"Ohne Gewinn zu machen, wäre das hier alles nicht möglich. Ein Unternehmen, das nicht rentabel ist, geht irgendwann bankrott. Daher muss das erste Ziel sein, Gewinn zu machen. Würden wir nichts verdienen, wären nicht nur die Aktionäre unzufrieden. Dann könnten wir weder die Löhne nicht bezahlen noch in die Ausrüstung investieren. Selbstverständlich ist das erste Ziel Gewinn und dieses Krankenhaus macht Gewinn."
Mehr und mehr Privatkliniken werben inzwischen in Portugal im Internet um Kunden. Banken bieten ihren Klienten Gesundheitspolicen zu Sonderkonditionen. Portugal gibt rund zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für den Gesundheitsbereich aus. Da wollen die Privaten natürlich kräftig mitverdienen, stellt Ex-Gesundheitsminister António Arnault fest:
"Natürlich gibt es große wirtschaftliche Interessen. Das sind ja nicht nur Versicherungsgesellschaften, sondern auch wahre Gesundheitskonzerne. Inzwischen gibt es im Land mehr private Krankenhäuser als zu Zeiten der Diktatur! Denen gefällt nicht, dass der Staat die Hauptverantwortung für den Gesundheitsbereich trägt."
Bis in die 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde in Portugal nur ärztlich behandelt, wer dafür zahlen konnte. Der staatliche Gesundheitsdienst gehörte zu den wichtigsten Errungenschaften der portugiesischen Nelkenrevolution, erinnert der inzwischen weit über 80 Jahre alte Mitbegründer der Sozialistischen Partei, António Arnault.
Streitbar hat er sich immer wieder für das von ihm geschaffene System eingesetzt, es gegen wiederkehrende Angriffe verteidigt. Gerade in Krisenzeiten wie jetzt sei der staatliche Gesundheitsdienst besonders wichtig: Einerseits wachse die Zahl der Arbeitslosen, die sich keine Versicherung leisten können, immer mehr. Andererseits habe auch die sowieso eher kleine portugiesische Mittelschicht, die Zielgruppe der Privaten, immer weniger Geld.
António Arnault: "Ohne staatliche Krankenversorgung hätten wir noch größere Probleme! Wenn die Wirtschaft zusammenbricht, kann doch niemand zusätzlich Geld für die Gesundheit ausgeben. Darum muss dieses System unbedingt erhalten werden."
Probleme haben kranke Portugiesen in der Tat schon genug: die Rentnerin Emilia Pedro etwa, die seit knapp zwei Stunden geduldig auf den harten Plastikbänken im überfüllten Wartezimmer der staatlichen Poliklinik von Carnide sitzt. Sie bekommt nicht einmal 500 Euro Rente im Monat. Für sie werden inzwischen selbst die Leistungen des staatlichen Systems zum Luxus:
"Ich habe Bluthochdruck, muss täglich vier verschiedene Medikamente nehmen. Ohne die würde ich nicht überleben. Zu jedem Rezept muss ich 30 Euro zuzahlen. Das ist hart."
Immerhin bekommt sie heute einen Arzttermin. Anders als ihre Bekannte Maxima Caetano, die trotz ihres hohen Alters heute vergeblich in die Praxis gekommen ist. Bei Routineuntersuchungen, heißt es in der Poliklinik, könnten die Patienten auch mal länger warten und ohne Behandlung nach Hause geschickt werden.
Maxima Caetano: "Früher hat der Gesundheitsdienst ja ganz gut funktioniert. Aber jetzt ist es schlimm. Ich bin 81 Jahre alt, wohne weit entfernt und muss zu Fuß hierher kommen. Nun habe ich nur einen Termin für nächsten Monat bekommen! Erst Ende nächsten Monats! So lang muss ich jetzt warten."
Lucilia Martinho, die Leiterin des Gesundheitszentrums, weiß um diese Probleme. In manchen Bereichen sei der staatliche Gesundheitsdienst völlig unzureichend ausgestattet. Die engagierte Ärztin macht daraus kein Hehl, nennt als Beispiel gerade für alte Menschen notwendige Hüftoperationen:
"Die Wartezeiten in der Orthopädie etwa sind absurd. In staatlichen Krankenhäusern können sie manchmal Jahre betragen! Wir versuchen, das Problem durch ein Abkommen mit einer Privatklinik zu lösen. Die gehört dem Roten Kreuz und kann die Patienten in etwas weniger als einem Jahr behandeln."
Privatkrankenhäuser, die Dienstleistungen für den staatlichen Gesundheitsdienst erbringen, sind inzwischen zu festen Bestandteilen des portugiesischen Systems geworden. Zu festgelegten Tarifen und als Ergänzung. Auch die Privatklinik São Francisco in der Kreisstadt Leiria in Mittelportugal erwirtschaftet auf diese Weise rund ein Drittel ihres Umsatzes. Doch die Privaten wollen mehr, erklärt Klinikchef António Évora:
"Die Privaten sollten mit dem staatlichen Gesundheitsdienst konkurrieren. Die Patienten müssten entscheiden dürfen, wo sie sich behandeln lassen. Wir alle hätten nur Vorteile, wenn es eine wirkliche Konkurrenz gäbe."
Genau das Gegenteil befürchten die Befürworter des staatlichen Gesundheitsdienstes. Private, auf Gewinn ausgerichtete Gesundheitsanbieter würden zu einem Zweiklassensystem führen, garantiert der Ex-Minister António Arnault:
"Der Staat muss die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung der Bürger übernehmen. Nur so kann das System gerecht sein. Wenn Gesundheit den Patienten Geld kostet, können die sozial Schwächeren sie nicht bezahlen und bleiben auf der Strecke."
Vor allem könnte schon eine Teilprivatisierung des Gesundheitssystems den portugiesischen Staat noch teurer kommen, als der so viel gescholtene staatliche Gesundheitsdienst. Denn die privaten Krankenversicherungen weigern sich hartnäckig, langwierige und teure Behandlungen zu übernehmen. Lucilia Martinho, die Leiterin der Poliklinik von Carnide, über eine gängige Praxis:
"Bei Krebserkrankungen führen die Privaten die einfache und lukrative Operation zwar schneller durch. Aber die notwendige und extrem teure Chemotherapie wird nicht bezahlt. Da kommen die Patienten dann wieder zu uns, um weiterbehandelt zu werden."
Inzwischen ist es fast sieben Uhr abends geworden. Noch immer sitzen Patienten auf den Plastikstühlen im Wartezimmer der staatlichen Poliklinik von Carnide. Noch immer behandelt Lucilia Martinho. Auf die Idee, wie viele ihrer Kollegen in ein Privatkrankenhaus zu wechseln, ist die Ärztin nie gekommen. Obwohl sie dort mehr verdienen würde. Lucilia Martinho glaubt an ihre Arbeit:
"Ich bin eine überzeugte Anhängerin dieses staatlichen Gesundheitssystems. Natürlich muss es in vielen Bereichen verbessert werden. Aber das Prinzip ist gut, wir dürfen es auf keinen Fall aufgeben. Alle Patienten gleich gut zu behandeln, ist ein Grundsatz, den wir auf keinen Fall vergessen dürfen."
Die Diskussionen über die Zukunft des Gesundheitssystems in Portugal werden trotzdem weitergehen. Denn die Kosten steigen mit der wachsenden Lebenserwartung weiter. Gleichzeitig muss der Staat hart sparen.
Schon jetzt hat Portugals Finanzminister auch Kürzungen im Gesundheitsbereich angekündigt, um die EU-Verschuldungskriterien einzuhalten. Und die Gesundheitsministerin weiß nicht, wo sie den Rotstift ansetzen soll. Denn mit noch weniger Geld würde der in der Verfassung festgeschriebene staatliche Gesundheitsdienst SNS wahrscheinlich zusammenbrechen.