Simone Jung, Jana Marlene Mader (Hg.): "Denkräume - Von Orten und Ideen"
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
416 Seiten, 15 Euro
Wo man am besten denken kann
08:45 Minuten
Was sind Orte, die Kreativität fördern? Wo bekommt man den Kopf frei für neue Gedanken? In dem Buch "Denkräume" setzen sich Autoren wie Carolin Emcke, Gerhard Henschel und Kathrin Passig mit der Frage auseinander, in welchem Kontext Ideen entstehen.
Manche brauchen ihren Schreibtisch, andere gehen lieber ins Kaffeehaus oder in die Natur, um ihren Gedanken Raum zu geben. Ideen können eigentlich überall entstehen, und deshalb sind es auch ganz unterschiedliche Orte, an die das Buch "Denkräume" führt. Es enthält Texte von 31 Autorinnen und Autoren – darunter Carolin Emcke, Gerhard Henschel, Kathrin Passig und Diedrich Diederichsen.
Herausgegeben wurde "Denkräume" von der Soziologin Simone Jung von der Leuphana Universität Lüneburg und der freien Autorin und Übersetzerin Jana Marlene Mader, die zur Zeit als Gastwissenschaftlerin am "Hannah Arendt Center" des Bard College New York arbeitet.
Die Idee zum Buch entstand an einem See
Im Vorwort zu dem Buch berichten die beiden Herausgeberinnen darüber, wo sie auf die Idee für das Buch gekommen sind:
"Jana und ich kennen uns jetzt schon länger, sind auch Freundinnen und Kolleginnen, und wir waren ein paar Tage am Spitzingsee. Das ist ein sehr schöner Ort in den Alpen. Und als wir um diesen See liefen, unterhielten wir uns auch über das Denken und Schreiben. Und genau in diesem Gespräch kamen wir dann auf die Idee, dass wir andere einladen, über ihre Orte des Denkens zu reflektieren", erzählt Simone Jung.
Die Kernidee des Buches sei aber, dass grundsätzlich überall gedacht werden könne:
"Damit ist dann auch nicht nur der klassische Schreibtisch oder das Café gemeint, sondern auch der Club oder das Gefängnis. Und auch viele andere Orte können zu einem Denkraum werden."
Als Beleg dafür verweist die Soziologin auf den Text, den Isabelle Graw zu "Denkräume" beisteuerte. Graw beschreibt darin drei Orte, die zum Denken gut sind: den Schreibtisch, soziale Treffpunkte wie Restaurants, aber auch das Meer, wo sie unter der Weite des Horizonts auf Gedanken kommt.
Auch das laute Berghain kann Denkraum sein
Es gibt auch das Beispiel des Musikjournalisten Jens Balzer, der den Club Berghain als seinen Denkraum beschreibt. Das zeige, so Jung, dass auch Kultur- und Veranstaltungsorte wie Kampnagel in Hamburg oder das Hebbel am Ufer in Berlin für die Ideenfindung wichtig sein können.
Eine Überraschung für Jung und Mader war, wie die Journalistin Meşale Tolu ihre Zeit in einem türkischen Gefängnis eingeordnet hat:
"Wir hatten sie angefragt, über das Gefängnis, in dem sie ein Jahr war, zu schreiben. Aber überraschend war dann, dass gerade das Gefängnis zu einem Ort der Freiheit und fast schon zu einem Ort der Emanzipation für sie geworden ist. Und das sind dann auch Momente beim Lesen, die nicht nur berühren, sondern auch nachhaltig im Kopf bleiben."
Wenn einen die Muse beim Staubsaugen küsst
Die beiden Herausgeberinnen haben sich nicht mit festen Themenideen an die Autorinnen und Autoren gewandt. Das habe zu interessanten Ergebnissen geführt, berichtet Mader:
"So hat zum Beispiel die amerikanische Lyrikerin Ann Lauterbach gefragt, ob sie über die ersten Schritte beim Schreiben eines Gedichts reflektieren dürfe. Und daraus entstand ein wunderschöner Beitrag, wie verschiedene Stimmen in ihrem Ohr Zeilen eines Gedichts werden – zum Beispiel eine Wortfolge beim Staubsaugen. Sie schiebt also den Staubsauger auf dem Boden hin und her und da kommen ihr Fragmente in den Kopf, die sich zu Versen formen. Den Staubsauger hätten wir selbst vermutlich nie vorgeschlagen."
Denkräume müssen nicht unbedingt physisch sein – auch das Internet könne helfen, Ideen zu finden. So beschreibe der Buch-Beitrag von Kathrin Passig, wie die Möglichkeiten zur Verständigung durch das Netz immer größer würden.
In der Wissenschaft werden die Denkräume kleiner
Gleichzeitig könne man dort, so Jung, aber auch die Kehrseite beobachten. Diskurse würden zugespitzt, alles sei polarisiert. Gerade auf Twitter könne man sehen, wie Aussagen immer kürzer und schneller formuliert würden. Und auch in der Wissenschaft beobachtet die Soziologin eine Veränderung der Ökonomie des Denkens und Schreibens.
"Ein viel genanntes Stichwort ist ja die Quantifizierung der Wissenschaft – also muss unheimlich viel publizieren. Und darunter leidet dann auch bisweilen der Inhalt. Unter diesen Bedingungen wird es immer schwieriger, Räume der Zurückgezogenheit zu finden oder zu schaffen, sich Zeit für das Denken zu nehmen."
(hte)