Anthony B. Atkinson: Ungleichheit. Was wir dagegen tun können
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Klett Cotta, Stuttgart 2016
474 Seiten, 26,95 Euro
Damit die Armen nicht arm bleiben
In den westlichen Wohlstandsländern gibt es immer mehr Superreiche und immer mehr Arme. Die zunehmende Ungleichheit sei politisch gewollt, sagt der prominente britische Wirtschaftsforscher Anthony B. Atkinson. Die Politik müsse die Reichen zur Kasse bitten.
Anthony Atkinson zählt sich zu den optimistischen Menschenfreunden. Er glaubt an die Veränderung. Er hofft auf das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen. Und er appelliert an die Politik, für radikale Veränderungen zu sorgen.
"Das 21. Jahrhundert führt besondere Herausforderungen mit sich, wenn wir eine überalternde Bevölkerung, den Klimawandel und globale Ungleichgewichte in den Blick nehmen. Die Lösung aber ebendieser Probleme haben wir selbst in der Hand. Wenn wir bereit sind, den größeren Wohlstand, über den wir heute verfügen, zu nutzen, um diese Probleme anzugehen, und wenn wir akzeptieren, dass diese Ressourcen gleicher verteilt werden müssen, dann gibt es in der Tat genügend Gründe für Optimismus."
15 staatliche Maßnahmen gegen Ungleichheit
In drei Teile untergliedert der Ökonom sein Buch. Zuerst beschreibt er den Ist-Zustand; im zweiten Teil schlägt Atkinson fünfzehn staatliche Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit vor; und im dritten Teil setzt er sich mit möglichen Gegenstimmen auseinander. Auch dabei steht die Ungleichheit im Zentrum.
"Es ist von Bedeutung, dass sich einige Menschen Fahrkarten für Weltraumausflüge leisten können, während andere vor städtischen Tafeln Schlange stehen. Eine Gesellschaft, in der niemand private Abstecher ins All, dafür aber jeder sein Essen in normalen Geschäften bezahlen kann, hätte mehr Zusammenhalt und mehr Sinn für gemeinsame Interessen."
Billiglohn statt Erbschaftssteuer
Atkinson blickt in die Vergangenheit, auf die Globalisierungsphase zwischen 1870 und 1914 und die Einführung der Sozialgesetze zunächst unter Bismarck.
"Ich lege so viel Wert auf den Zeitrahmen, weil sich die Einführung des Wohlfahrtsstaates und seiner Sozialsysteme in Europa nicht in Konkurrenz mit der Verfolgung wirtschaftlicher Zielsetzungen vollzog, sondern als deren Ergänzung angesehen wurde. In der Frühzeit des europäischen Wirtschaftsstaates begriff man Sozial- und Wirtschaftspolitik als zwei gleichgerichtete Bestrebungen."
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Sozialstaat ausgebaut, und progressive Einkommen- und Erbschaftssteuern sollten die Konzentration von Vermögen reduzieren. Davon ist seit den 1980er-Jahren und dem Siegeszug des Neoliberalen keine Rede mehr. Die Spitzensteuersätze sind heute viel niedriger als vor dreißig Jahren. Sozialleistungen werden in vielen Ländern gekürzt, Billiglöhne angeboten und prekäre Arbeitsverhältnisse geschaffen.
"Nach meiner Einschätzung müssen wir radikaler denken, über die gegenwärtig eingesetzten Strategien hinaus, um die Armut in den reichen Ländern zu beseitigen. Wir müssen unsere Gesellschaften als Ganzes betrachten und erkennen, dass es wichtige Wechselbeziehungen gibt. (…) Was im oberen Bereich der Verteilung geschieht, wirkt sich auch auf die Menschen aus, die unten sind. (…) In der Regel geht höhere Armut mit einem höheren Anteil an Spitzeneinkommen einher."
Politiker nicht an Armen interessiert
Die Konzentration des Reichtums in wenigen Händen sei auch schlecht für die Demokratie, warnt Atkinson. Vor allem im angloamerikanischen Raum würde die Politik regelrecht gekauft, doch auch bei uns nimmt der Einfluss der Lobbyverbände atemberaubend zu. Und natürlich wird die Politik auch über Parteispenden gelenkt. Und für die Armen interessierten sich ohnehin nur wenige Politiker, denn viele Arme hätten sich längst von der Politik verabschiedet und gingen gar nicht mehr zur Wahl.
Was zu tun sei, skizziert Atkinson in fünfzehn konkreten Vorschlägen. Darunter fasst er zum Beispiel eine Grundsicherung für alle und ein Mindesterbe zum achtzehnten Geburtstag, um leichter ins Berufsleben starten zu können.
"Das Grundeinkommen ist eine Zahlung an alle Bürger. (…) Die Idee mag absonderlich klingen, hat aber große Ähnlichkeit mit der Befreiung von der Einkommensteuer. (…) Ein Grundeinkommen gibt es in vielen Ländern, denn eine Zahlung für alle Kinder (…) ist ein Grundeinkommen für Kinder."
Finanziert werden könne und müsse dies über höhere Erbschaftssteuern, schreibt Atkinson. Denn die wachsende Ungleichheit sei nicht gottgewollt oder gottgegeben, sondern eine politische Entscheidung. Die Politik habe gegenzusteuern und neue Wege zu gehen.
Warum sollten Reiche kooperieren?
Nur: Atkinson und andere Ökonomen wie Joseph Stiglitz verraten nicht, wie sie aus der Sackgasse ihrer Argumentation herauskommen wollen: Warum sollten die Reichen, denen sie einen so großen Einfluss auf Politik (und zunehmend auch auf Medien) attestieren, auf einmal gegen ihre Interessen handeln? Solange die Superreichen sich in schwer bewachten Siedlungen verbarrikadieren, mit eigenen Schulen, eigenen Krankenhäusern, einem eigenen Versorgungssystem – so lange bleiben Atkinsons Gedanken bloße Utopie.
Wie will Atkinson diese Parallelgesellschaften auflösen? Diese zentrale Antwort bleibt er schuldig. Mehr noch – er stellt die Frage nicht einmal.