Anthony Doerr: "Wolkenkuckucksland"

Sehnsuchtsorte sind zeitlos

Cover Wolkenkuckucksland von Anthony Doerr
© C. H. Beck

Anthony Doerr

Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence

WolkenkuckuckslandC.H.Beck, München 2021

532 Seiten

25,00 Euro

Von Irene Binal |
Ein lernbegieriges Mädchen aus der frühen Neuzeit, ein hypersensibler Umwelt-Attentäter der Gegenwart und die letzte Überlebende eines Raumschiffs: In Anthony Doerrs Roman finden sie alle Trost in einem uralten Märchen.
Das mythische „Wolkenkuckucksland“, ein Reich über den Wolken, in dem es keine Sorgen und Nöte gibt, findet sich erstmals in Aristophanes‘ Komödie „Die Vögel“. Bei Anthony Doerr wird dieser Sehnsuchtsort zu einem zeitlosen Rettungsanker für fünf Menschen, deren Leben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.

Von Vergangenheit bis Zukunft

Da ist Anna im Konstantinopel des 15. Jahrhunderts, die die Belagerung der Stadt durch die Sarazenen miterlebt. Da ist Omeir, der sanfte Junge mit der Hasenscharte, der gezwungen wird, sich den Belagerern anzuschließen.
Der hypersensible Seymour plant im Jahr 2020 einen Anschlag auf eine Bibliothek in Idaho, um auf die Umweltzerstörung aufmerksam zu machen, während der inzwischen 86-jährige Zeno Ninis, ein Veteran aus dem Koreakrieg, in eben jener Bibliothek eine Schüleraufführung von „Wolkenkuckucksland“ probt. Und schließlich ist da Konstance, die in einem Generationenraumschiff auf dem Weg zu einem fernen Planeten aufwächst und nach Ausbruch einer Seuche an Bord plötzlich auf sich allein gestellt ist.

Alle suchen das Wunderland

Verbunden sind diese Schicksale durch die Geschichte vom Wolkenkuckucksland, einen antiken Text, den Anna in den Ruinen eines verlassenen Klosters findet. Das Märchen von Aethon, der auf der Suche nach dem Reich über den Wolken zum Esel wird, zum Fisch und zum Vogel, hat für jeden der fünf eine zentrale Bedeutung.
Anna rettet den Kodex aus der belagerten Stadt. Zeno versucht Jahrhunderte später, das stark beschädigte Manuskript zu übersetzen. Konstance stößt bei ihren Wanderungen durch einen digitalen Atlas, der die noch unzerstörte Erde zeigt, auf das Büchlein und schöpft daraus den Mut, Fragen zu stellen, die ihre Sicht auf die Dinge verändern werden.
Es ist ein Roman, der vor Erzählfreude nur so strotzt. Mit viel Liebe zum Detail schildert Doerr die Lebensgeschichten seiner Protagonisten. Er erzählt von Annas Lernbegierde, von Omeir und seinen Ochsen, von Zenos nie eingestandener Liebe zu seinem Kriegskameraden Rex, von Seymours Freundschaft mit einer Eule, deren Lebensraum für den Bau einer Siedlung zerstört werden soll, von Konstances überschäumender Fantasie, für die in der durchtechnologisierten Welt des Raumschiffs kein Platz ist. Und er erzählt von Büchern und Bibliotheken, von der Magie des Lesens und der Kraft eines Märchens.

Hommage ans Lesen

Herausgekommen ist ein kunstvoll verschränkter und hochkomplexer Text voller Anspielungen und wiederkehrender Motive, der oft das verwirrende Gefühl vermittelt, quer durch verschiedene Filme zu zappen. Hier liegt auch die einzige Schwäche in Doerrs Roman: Das Spiel mit den unterschiedlichen Erzählebenen wird vor allem im Mittelteil ein wenig ermüdend, mitunter droht die eigentliche Handlung hinter all den Geschichten unterzugehen.
Erst ganz am Schluss wird klar, wie alles zusammenhängt. Insgesamt jedoch ist „Wolkenkuckucksland“ eine opulente Hommage an Bücher, an das Lesen und eine Erinnerung daran, dass Geschichten jedem von uns in schwierigen Zeiten Kraft geben können.

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