Steht Großbritannien vor einer Schicksalswahl?
Am 7. Mai stimmen die Briten über ein neues Unterhaus ab und der Wahlausgang ist völlig offen. Die regierenden Konservativen und die oppositionelle Labour Party liegen in Umfragen gleichauf.
Deutschlandradio Kultur: Heute geht es in Tacheles um die Parlamentswahlen in Großbritannien, die in anderthalb Wochen am 7. Mai stattfinden werden. Unser Gast ist Prof. Anthony Glees von der britischen Universität von Buckingham.
Herr Prof. Glees, es wird wie immer in Großbritannien auf einen Zweikampf zwischen den Konservativen und Labour hinauslaufen. Es wird am Ende entweder Premierminister David Cameron sein oder es wird Premierminister Ed Miliband sein. Dennoch ist vieles dieses Mal anders als sonst und manche Beobachter sprechen ja sogar von dem am wenigsten vorhersehbaren Wahlausgang seit Jahrzehnten. Was glauben Sie? Wie spannend wird es?
Anthony Glees: Es wird sehr, sehr spannend sein. Und ich glaube, es eine Fahrt ins Ungewisse zu nennen, ist sehr richtig, ist keine falsche Aussage.
Auf der einen Seite kann es natürlich so hinausgehen, dass wir am 7. Mai wieder David Cameron als Premierminister und Nick Clegg als seinen Vize in Downing Street haben und alles wird so ziemlich weitergehen, wie es gegangen ist.
Deutschlandradio Kultur: Das ist aber relativ unwahrscheinlich.
Anthony Glees: Es ist relativ unwahrscheinlich. Wenn man sich mit den Zahlen befasst, sieht man, wie schlimm die Lage von David Cameron ist. Aber so, wie die Konstellation der Parteien heute aussieht, kann es von einem business as usual, also, es wird so weitergehen, wie wir in den letzten fünf Jahren den Weg gegangen sind, oder dass wir am schlimmsten nicht nur die Auflösung des britischen Staates haben, sondern auch die Auflösung des britischen politischen Systems und auch die Auflösung von Großbritanniens Rolle, als globale Macht in der Welt dazustehen, und die Auflösung von dem wenigen politischen Einfluss, den Großbritannien in der Europäischen Union heute besitzt. – Also, es steht wirklich sehr viel auf dem Spiel in diesen Wahlen, so wie nie zuvor.
Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns kurz zurückblicken. 2010 kam es in Großbritannien zu etwas sehr Ungewohntem erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg, nämlich zu einer Koalition. Die wurde gebildet von David Cameron seitens der Konservativen und von Nick Clegg seitens der Liberaldemokraten.
Nach fünf Jahren, wie fällt Ihre Bilanz dieser Koalition aus – alles in allem?
Nach fünf Jahren, wie fällt Ihre Bilanz dieser Koalition aus – alles in allem?
Anthony Glees: Alles in allem war diese Regierung nicht schlecht. Besonders in wirtschaftlicher Hinsicht hat die Regierung unter der Führung von George Osborne, dem Finanzminister, sehr viel Gutes getan. Da brauchen Sie nicht auf mich zu hören. Sie können von Frau Lagarde das hören, von Wolfgang Schäuble das hören. Großbritannien ist zu einer Musterwirtschaft unter David Cameron geworden.
Und für Leute wie mich, Politologen, ist eine der vielen seltsamen Sachen dieser Wahl, dieser Erfolg in der Wirtschaft scheint keine Resonanz bei den Wählern zu finden. Alle wissen, bei Bill Clinton hieß es immer, „es ist die Wirtschaft, Dummkopf". Man hätte meinen können in Großbritannien, wenn das die Wirtschaft wäre, dann wäre David Cameron weitaus nach vorne gekommen, besonders weil Labour die Regierung da bildete, als es den wirtschaftlichen Kollaps gab. Aber es ist nicht so. Es ist offenbar der Fall, dass die Tories nicht zugenommen haben, obwohl sie wirtschaftlich sehr gut getan haben.
Deutschlandradio Kultur: Da müssen wir natürlich darauf zu sprechen kommen, womit man sich das erklärt. – Könnte es sein, dass Labours Argumentation, die ja so in etwa lautet, die Tories wollten das Defizit beseitigen, das haben sie verkündet, es ist aber immer noch bei knapp fünf Prozent, also, es ist immer noch relativ hoch. Dann sagt Labour, gut, wir haben Wirtschaftswachstum, aber nach jeder Krise gibt es Wirtschaftswachstum. Also, man hätte da auch einen Esel regieren lassen können und man hätte Wirtschaftswachstum bekommen.
Und außerdem, der wirtschaftliche Aufschwung, der zweifellos da ist, der kommt längst nicht allen zugute. Wir haben viele Arbeitsplätze geschaffen, aber das sind Arbeitsplätze mit ganz miserablen Bedingungen, mit wenig Stundenlohn. Mit anderen Worten: Der Lebensstandard für viele Leute ist nicht gestiegen, sondern erstmal gesunken in den letzten fünf Jahren. Und sind Sie der Meinung, dass diese Argumentation von Labour der entscheidende Grund ist, wieso die Tories nicht mehr zulegen können?
Anthony Glees: Wenn das richtig wäre, dann würde man meinen, die Argumente von Ed Miliband und Herrn Balls würden viel mehr Resonanz haben.
Deutschlandradio Kultur: Ed Balls ist der finanzpolitische Sprecher von Labour...
Anthony Glees: Ja. Die zwei – aber Labour kann auch nichts durch diese Argumentation gewinnen. Also, beide große Parteien kommen nicht nach vorn. Sie liegen so ähnlich, wie sie vor fünf Jahren lagen. Labour ist besser als damals, aber immerhin. Für die Mehrzahl der Briten kann es schon stimmen, dass sie sich nicht gerade reich fühlen, aber es geht ihnen viel besser als vor 2010 ohne Zweifel. Die haben mehr Geld in der Tasche. Es ist mehr Arbeit. Ja, vielleicht es mehr Jobs, die weniger Geld zahlen. Das versteht man. Aber die Leute haben Jobs. Und die Wirtschaftsmisere liegt für die meisten Briten jetzt hinter ihnen. Wir sind kein Griechenland.
Deutschlandradio Kultur: Gut. Aber was ist dann die Erklärung dafür, dass die Tories nicht punkten können?
Anthony Glees: Vielleicht haben die Briten auf der einen Seite die Nase voll von der Austerität, also von der Sparpolitik, und wollen das einfach nicht mehr. Das ist möglich. Auf der anderen Seite: Vielleicht ist das Vertrauen zu den Parteien, besonders zu den zwei großen Volksparteien Tories und Labour, vielleicht fängt das an zu verschwinden, dass dieses Vertrauen verschwunden ist. Und es gibt nicht genug Leute, die entweder die Botschaft von Labour richtig finden oder die Botschaft der Tories richtig finden. Es sind einfach nicht genug Wähler da, um daraus eine tragfähige Regierung bilden zu können für das nächste Unterhaus.
Aber dass es den Briten besser geht, das ist nicht zu bezweifeln. Bloß kann Cameron und Osborne nichts daraus gewinnen – es ist seltsam.
Deutschlandradio Kultur: Was ich erstaunlich finde als außen stehender Beobachter ist, dass hier ein nicht finanziertes Wahlversprechen nach dem anderen abgegeben wird, wo doch eigentlich jeder Wähler weiß, das kann überhaupt nicht Wirklichkeit werden, und dass vor allen Dingen die Partei, die immer ja für sich in Anspruch genommen hat, wir sind der Aufpasser, wir sind seriös, dass die Konservativen mit Wahlversprechen, die teuer sind, nur so um sich werfen.
Anthony Glees: Ja, ganz richtig. Deswegen ist es so verwirrend. Im Wahlkampf fingen die Tories an, mit neuen Versprechungen wirklich jeden Tag hervorzukommen. Und wer für diese Versprechungen eigentlich bezahlen soll und wie dafür bezahlt werden soll, das wurde überhaupt nicht erwähnt. Und wörtlich hat David Cameron gesagt: „Wir werden nur erklären, wie das alles zu zahlen sein wird, nach der Wahl." Und bei Labour gibt es auch diese vielen Versprechungen. Die sind einigermaßen ehrlicher. Denn die sagen, sie würden weniger sparen wie die Tories. Und daraus würde man das Geld bekommen.
Deutschlandradio Kultur: Wobei das auch schon erstaunlich ist, dass Labour auf einmal in die Rolle der Tories schlüpft und sagt, wir sind die finanzpolitisch Seriösen. Das hat man vorher auch noch nicht erlebt, oder?
Anthony Glees: Im Wahlkampf ist das ein Durcheinander. Die Tories machen die Versprechungen, die man früher mit Labour assoziiert hat. Und Labour sagt Sachen zu diesen Versprechungen, die man früher mit den Tories assoziiert hat. Bloß, kein Mensch glaubt daran. Ich glaube, kein Mensch hört auf diese Versprechungen.
Und der britische Wähler denkt immer mehr: Taktik, wie das nach der Wahl eigentlich aussehen wird und was wäre in den Interessen der Wähler nach der Wahl. Was die Parteien versprechen, so wie man das im traditionellen Wahlkampf meinen würde, ich glaube, keiner hört mehr darauf.
Deutschlandradio Kultur: Zu Recht. – Vielleicht ein Wort zu den Personen, auch das personelle Angebot. Also: David Cameron als jetziger und möglicherweise auch künftiger Premierminister oder Ed Miliband als Labour-Oppositionsführer, der gerne künftig Premierminister sein würde, beide haben keine guten Popularitätswerte. David Cameron hatte am Anfang deutlich bessere als Miliband. Miliband hat im Wahlkampf aufgeholt, obwohl er noch nicht an ihn ran reicht. Aber was erstaunlich ist, dass alle zusammen so schlechte Popularitätswerte hatten, wie Politiker in Großbritannien selten zuvor. Ist das auch ein Grund dafür, dass die großen Parteien nicht punkten können?
Anthony Glees: David Cameron hatte diese Schwierigkeit schon vor fünf Jahren, dass er irgendwie sich darstellt als jemand, dem schwer Glauben zu schenken ist. Der sagt schon die richtigen Sachen, aber es ist irgendwas damit, wie er aussieht, wenn er diese Versprechen macht.
Deutschlandradio Kultur: Zu glatt, zu vornehm?
Anthony Glees: Zu glatt, als ob seine eigentlichen Interessen beim Management liegen. Er sieht sich als einen Manager, aber keinen Politiker so wie Margaret Thatcher, wo es um Glauben geht. Das fehlt bei Cameron.
Deutschlandradio Kultur: Man weiß nicht, wofür er steht.
Anthony Glees: Man weiß eigentlich nicht, wofür er steht. Und Leute nehmen an, das sei, weil er nach Eton zu dieser Eliteschule ging, weil seine Eltern sehr viel Geld haben, er wird als Aristokrat, hoch bürgerlicher Mann dargestellt. Und das mag auch wahr sein. Aber ich glaube nicht, dass das der Grund ist, warum er nicht überzeugend sich darstellen kann.
Deutschlandradio Kultur: Aber Ed Miliband, um auf den Oppositionsführer zu kommen, ihm wurde zumindest von einem konservativen Kommentator bescheinigt, man wisse, wofür er stehe, das war Dominic Lawson von der Sunday Times. Was er dem David Cameron leider nicht bescheinigen könne, auch wenn er – Dominic Lawson – mit allem, was Ed Miliband sage, eigentlich nicht übereinstimme. Miliband steht für was, kommt aber trotzdem nicht an.
Anthony Glees: Ja, wissen Sie, das war auch eine Fehlbewegung der Tories. In Miliband haben wir einen Mann, der in seinem ganzen Leben nichts anderes als Politik und Politikberatung gemacht hat – natürlich meistens für Gordon Brown, der selber unbeliebt ist.
Deutschlandradio Kultur: Er ist noch relativ jung, muss man sagen. Er ist Mitte 40.
Anthony Glees: 45 und sieht viel jünger aus, wie ein Schuljunge, ein älterer Schuljunge oder wie ein Universitätsstudent. – Dieser Typ!. Und die Tories haben gesagt: Ja, je mehr die Leute diesen Mann sehen, desto weniger könnte er Premierminister werden. Es ist genau das Gegenteil. Je mehr Ed Miliband sich an das Publikum darstellen kann, obwohl er ein bisschen komisch aussieht, wie ein Student, unausgewachsen aussieht, ist es klar, dass er ein Überzeugungspolitiker ist. Und man mag vielleicht nicht von dem, was er sagt, überzeugt sein, aber dass er davon überzeugt ist, ist sehr, sehr wichtig für ihn.
Für ihn aber ist sein Problem, dass er nur seine Stammwähler für sich sammeln kann. Denn seine Überzeugungen sind rote Überzeugungen. Und das, was Miliband wirklich will, glaube ich, ist, dass er ein anderes Großbritannien sehen will, ein Großbritannien, das in der Weltpolitik viel kleiner da steht. Und Miliband hat schon in der großen Fernsehdebatte gesagt auf die Frage, ob er Mann genug sei, Premierminister zu sein, also stark genug sei, Premierminister zu sein: Ja, ich bin ein starker Mann, denn ich habe zu Obama und Cameron nein gesagt, als sie in Syrien sich einmischen wollten. Ich habe die beiden Männer und den stärksten Politiker in der Welt, Barack Obama, zu ihm habe ich nein gesagt. – Also, dass er sich darstellen konnte als ein starker Politiker, das war ein Moment in der Wahlkampagne, mit dem die Tories gar nicht gerechnet hatten.
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Glees, wir können sagen, beide Spitzenpolitiker sind nicht sonderlich überzeugend. Beide werden nicht genügend Stimmen bekommen für ihre Parteien, um am Ende mit einer absoluten Mehrheit allein zu regieren. Vielleicht reicht es noch nicht mal mehr für eine Koalition. Möglicherweise bleibt nur eine Minderheitsregierung. Und da scheint, weil wir offenbar den Aufstieg der kleineren Parteien in diesem Jahr erleben werden, da scheint Ed Miliband mehr Optionen zu haben als David Cameron.
David Cameron, dem nehmen die UKIP-Leute, die Rechtspopulisten von der Unabhängigkeitspartei, Stimmen weg, also den Tories, der Partei. Aber die werden nicht genügend Sitze bekommen, um mit Cameron eine Koalition bilden zu können, wahrscheinlich.
Miliband geschieht dasselbe. Ihm nimmt die Schottische Nationalpartei, die eigentlich auch linksorientiert ist, in Schottland die Stimmen weg. Aber die werden so viele Sitze bekommen, dass es möglicherweise zu einer Duldung durch die SNP für Miliband reicht. Ist Miliband wahrscheinlich der nächste Premierminister?
Anthony Glees: Das ist eine phantastische Frage. Ich würde erstens sagen:
Cameron liegt gefährlicher da. Sie haben ganz Recht. Denn Ed Miliband hat so gedacht, seine Strategie ist ganz klar: Wenn ich meine Stammwähler wirklich am 7. Mai zu den Urnen bringen kann, dann besteht eine sehr gute Chance, dass ich Premierminister werde, auch wenn ich keine Stimmen zu mir bringe, wenn es kein Wachstum an Stimmen auf Labour gibt. Denn die Parteien liegen so, dass es einfacher für Miliband ist, auch eine alleinstehende Regierung zu bilden, als für Cameron, denn Cameron kann seine eigenen Leute nicht überzeugen.
Cameron liegt gefährlicher da. Sie haben ganz Recht. Denn Ed Miliband hat so gedacht, seine Strategie ist ganz klar: Wenn ich meine Stammwähler wirklich am 7. Mai zu den Urnen bringen kann, dann besteht eine sehr gute Chance, dass ich Premierminister werde, auch wenn ich keine Stimmen zu mir bringe, wenn es kein Wachstum an Stimmen auf Labour gibt. Denn die Parteien liegen so, dass es einfacher für Miliband ist, auch eine alleinstehende Regierung zu bilden, als für Cameron, denn Cameron kann seine eigenen Leute nicht überzeugen.
Wenn Cameron dasselbe Resultat am 7. Mai hervorbringt, wie er 2010 hervorgebracht hat, dann ist seine politische Karriere wahrscheinlich am Ende.
Miliband braucht nur seine Stammwähler. Und dann, wenn er seine Stammwähler hat, auch wenn er viele Sitze in Schottland verliert, ist seine Position viel, viel stärker. Denn bei Miliband in England liegt nichts auf seiner linken Seite. Dagegen, bei Cameron liegt UKIP auf seiner rechten Seite. Und das macht für Cameron das Leben viel, viel gefährlicher als für Miliband.
Miliband braucht nur seine Stammwähler. Und dann, wenn er seine Stammwähler hat, auch wenn er viele Sitze in Schottland verliert, ist seine Position viel, viel stärker. Denn bei Miliband in England liegt nichts auf seiner linken Seite. Dagegen, bei Cameron liegt UKIP auf seiner rechten Seite. Und das macht für Cameron das Leben viel, viel gefährlicher als für Miliband.
Deutschlandradio Kultur: Also, das heißt die SNP in Schottland ist für Labour weniger gefährlich als UKIP für die Tories in England?
Anthony Glees: Genau das. Und für Cameron: Die Taktik hat sich völlig geändert. Camerons Wahltaktik musste sich dauernd ändern, weil es plötzlich den Tories klar war, gerade das, was Sie sagen, dass mit einer starken SNP, also mit den Schottischen Nationalisten stark in Schottland, obwohl Labour da viele Sitze in Schottland verlieren kann, kann Labour als stärkste Partei dastehen – als stärkste Partei nicht nur in Fragen der Sitze, sondern auch in der politischen Stärke, die Ed Miliband haben wird. Denn zu dem Rande von Labour liegt nichts, aber bei den Tories besteht nicht nur UKIP, sondern Camerons eigene Gegner innerhalb der Konservativen Partei, die ihn nie haben wollten, die dauernd gegen ihn gemeckert haben und von denen mindestens zwei zu UKIP abgegangen sind.
Dass ist eine Zukunft für Großbritannien geben könnte, wo Ed Miliband Premierminister in einer Minderheitsregierung wäre mit Duldung der Schottischen Nationalisten, wo beide Parteien noch in der Europäischen Union bleiben würden, könnte ein stabiler Ausgang dieser Wahl werden.
Dagegen könnte es auch so sein, wenn Cameron keine Stimmen zu sich gewinnen kann am 7. Mai, dass eine Regierung Cameron vielleicht mit Nick Clegg, aber vielleicht mit Duldung von Nigel Farage...
Deutschlandradio Kultur: ... Nick Clegg ist der Chef der Liberaldemokraten ...
Anthony Glees: Richtig. Mit Duldung von Nigel Farage nicht nur zu einer Situation führt, wo die Europafrage gestellt wird. Und es ist möglich, dass Großbritannien aus der Europäischen Union rausgehen würde, obwohl die letzten Meinungsumfragen zeigen eine immer größere Mehrheit von mehr als zehn Prozent, eine Mehrheit von zehn Prozent wollen jetzt in der Europäischen Union bleiben, auch ein Problem für Cameron zur Wahl, dass eine Tory-Regierung, durch Farage geduldet, würde nicht nur die Möglichkeit eines Ausgangs aus der Europäischen Union bringen mit all den wirtschaftlichen Folgen, sondern auch eine sehr rasche Aufbrechung der Union.
Denn die Schotten würden nie ein Großbritannien hinnehmen, das nicht Mitglied der Europäischen Union ist. Das ist für die Schotten, für die Schottischen Nationalisten komischerweise eine Grundsatzfrage. Und das bekämen sie durch Miliband. Miliband würde nicht daran schütteln. Und es könnte dann sein, dass die Schotten sagen, die Nationalisten sagen: Ja, wir können so lange in der Union bleiben unter diesen Bedingungen.
Deutschlandradio Kultur: Prof. Glees, Sie als eher liberal-konservativer Beobachter sagen möglicherweise, dass Großbritannien stabiler wäre im Hinblick vor allen Dingen auf seine europäische Bestimmung, mit einer Labour-Minderheitsregierung unter Duldung der Schottischen Nationalisten?
Anthony Glees: Es ist in der Tat so. Es ist sehr seltsam. Es ist eine Fahrt ins Ungewisse. Aber so paradox das auch klingen könnte, wäre das Stabilste natürlich, Cameron und Clegg zusammen haben eine Mehrheit.
Deutschlandradio Kultur: Also die Fortsetzung.
Anthony Glees: Eine Fortsetzung. – Und vielleicht gibt es dann ein Referendum über Europa. Das wissen wir nicht. Aber alles bleibt eigentlich beim selben.
Aber wenn die Liberalen schlecht abziehen und es sieht so aus, als ob das möglich wäre, dann müsste Cameron auf UKIP dastehen. Und wenn das geschieht, würden die Schottischen Nationalisten nicht in der Union bleiben. Und dann müsste es ein sofortiges Referendum über Europa geben. Sonst würde die Regierung auseinanderbrechen.
Also, wenn es um Stabilität geht, dann ist es Miliband am ehesten, der die Möglichkeit hat, das anzubieten, und nicht David Cameron. Die Politik ist ungewiss. Man kann nie genau wissen, was geschehen wird. Es ist möglich, dass David Cameron eine glatte Mehrheit bekommt. Er ist immer noch verpflichtet, dann ein Referendum zu halten, moralisch verpflichtet. Aber vielleicht wird es nicht so schlimm.
Aber es sieht sehr unwahrscheinlich aus, dass Cameron das kann. Die Meinungsumfragen zeigen Tag für Tag, dass er über die 34-Prozent-Hürde nicht kommen kann. Also, dass es eine Koalition geben muss, das steht fest.
Nur eine Frage haben Sie mir nicht gestellt, ob es eine Große Koalition geben könnte zwischen Cameron und Miliband.
Nur eine Frage haben Sie mir nicht gestellt, ob es eine Große Koalition geben könnte zwischen Cameron und Miliband.
Deutschlandradio Kultur: Die habe ich Ihnen deswegen nicht gestellt, weil das so unwahrscheinlich erscheint in Großbritannien, dass ich mir das nicht vorstellen kann. Aber da Sie schon selbst die Frage gestellt haben, können Sie sie jetzt auch beantworten.
Anthony Glees: Ich hab nie ein Großbritannien gesehen, das mit solchen Auseinandersetzungen fertig werden muss, wie heute. Aber wenn man zurück zu den Grundsatzfragen in der Politik kommt, Grundsatzfragen übrigens, die im Großen und Ganzen nicht erörtert werden – weder von Miliband, noch Cameron – in Grundsatzfragen ist das, was Cameron und Miliband vereint, viel wichtiger als das, was sie auseinanderschiebt.
Deutschlandradio Kultur: Welche Grundsatzfragen meinen Sie?
Anthony Glees: Die Grundsatzfragen, dass Großbritannien zum Beispiel eine Nuklearmacht bleibt. Cameron und Miliband sind dafür. Dass Großbritannien in der Europäischen Union bleibt, allerdings mit gewissen Reformen vielleicht, kleinen Reformen, das will Cameron, das will auch Miliband. Dass es mit einer wirtschaftlichen Politik weitergehen soll, wo wir uns nicht so verschulden wie die Griechen das getan haben, wie die Iren das getan haben, da sind auch Miliband und Cameron in Übereinstimmung.
Und das ist das Komische: Wenn wir einen Wahlkampf gehabt hätten, wo diese großen Fragen über Großbritanniens Rolle in der Welt, Großbritanniens Rolle in der Europäischen Union, ob wir eine Wirtschaft haben, Jobs anbieten und die Verschuldung abgenommen hätte, dann hätte man gesehen, dass Labour und Tories eigentlich nicht so weit voneinander entfernt sind. Aber das haben wir nicht gehabt.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem die kurze Frage mit einer kurzen Antwort: Wie wahrscheinlich ist es, dass es eine Große Koalition gibt?
Anthony Glees: Wissen Sie, 1940 hat es eine Große Koalition gegeben.
Deutschlandradio Kultur: Da war Krieg.
Anthony Glees: Da war Krieg. Und wer kann sagen, dass die Zustände, in denen wir uns heute finden, so grundsätzlich anders sind als die Zustände 1940? Wissen Sie, 1940....
Deutschlandradio Kultur: Na gut, da würde ich schon widersprechen. Also, wir haben keinen Krieg.
Anthony Glees: Wir haben keinen Krieg, aber die Bedrohung 1940 war, dass der britische Staat sich auflösen würde durch den Druck der Nazis. Heute ist der Druck ganz, ganz anders, aber dass es um die Auflösung des britischen Staates gehen könnte, muss doch jedem klar sein, der die politischen Tatsachen in Großbritannien nüchtern ansieht.
Die große Gewinnerin, ich sage es schon, dieser Wahlkampagne war Nicola Sturgeon.
Deutschlandradio Kultur: Das ist die Parteivorsitzende der Schottischen Nationalpartei, die formidable Fernsehauftritte hingelegt hat, die große Popularitätssteigerungen erleben konnte und die zum heimlichen Star dieser Wahl geworden ist.
Anthony Glees: Ja, die ist der Star. Die erinnert an Frau Merkel, gewissermaßen vielleicht, wenn ich das sagen darf, eine noch charismatischere Ausführung von Angela Merkel. Aber sie erinnert auch an Margaret Thatcher, eine Politikerin, die ganz überzeugt ist, die ganz klar ist, die sehr, sehr gescheit ist, wie sie ihre eigene Politik da hinstellt.
Deutschlandradio Kultur: Sie könnte Schottland eines Tages aus der Union, aus dem Vereinigten Königreich führen?
Anthony Glees: Nicola Sturgeon könnte wohl die Führerin sein, die Schottland aus der Union mit Großbritannien herausnehmen würde. Und mit ihr fertig zu werden, wird eins der Hauptprobleme nach dem 7. Mai. Denn sie wird dastehen, ob sie in eine Regierung kommt oder ob sie eine Regierung duldet, die wird eine starke Figur in unserer Politik sein.
Deutschlandradio Kultur: Sie wird nicht im Westminster-Parlament selber sein, sie wird in Schottland, in Edinburgh als Regierungschefin bleiben, aber sie zieht natürlich hinter den Kulissen die Strippen. Man rechnet damit, dass die SNP bis zu 50, vielleicht sogar über 50 Sitze in Schottland bekommt und damit quasi den Anteil der Labour-Partei auf nahezu Null bringen wird.
Würden Sie sagen abschließend, Herr Prof. Glees, Großbritannien geht unruhigen Zeiten entgegen?
Anthony Glees: Wir gehen sehr unruhigen Zeiten entgegen in Großbritannien. Aber dass es zu einer politischen Explosion kommen wird, das glaube ich nicht. Ich glaube, die Briten werden mit dem fertig, was die politische Zukunft ihnen bescheren wird.