Anthropologe: Die Menschheit braucht kulturelle Vielfalt
Mehr als 30 Jahre lang hat sich der französische Anthropologe Bruce Albert mit den Yanomami-Indianern beschäftigt. Er hofft, dass sie trotz Kontakt zur westlichen Zivilisation ihre traditionelle Kultur bewahren können.
Stephan Karkowsky: Ihr Land ist etwa so groß wie Portugal, und sie besitzen es heute völlig rechtmäßig, nachdem Land und Kultur der Yanomami-Indianer jahrelang durch Goldgräber bedroht waren. Im Buch "Der Fall des Himmels" erklärt der Yanomami-Schamane Davi Kopenawa die jahrhundertealte Metaphysik seines Volkes. Sie fußt auf der Einnahme starker Halluzinogene. Erzählt hat er die Geschichte dem französischen Anthropologen Bruce Albert, der hat sich über 30 Jahre lang beschäftigt mit dem Leben und der Kultur dieser Indianer. Susanne Burkhardt hat ihn im Dorf Watoriki getroffen, einem Runddorf der Indianer, in dem alle 170 Einwohner unter einem Dach leben, und sie hat ihn gefragt, wie sehr sich das Leben der Yanomami-Indianer in diesen mehr als 30 Jahren durch den Kontakt mit der Zivilisation verändert hat.
Bruce Albert: Das hängt sehr von der Region ab, in der die Indianer leben. In manchen Gegenden – wie zum Beispiel dort, wo Mitte der 70er-Jahre Straßen hingebaut wurden – löste der Kontakt zu den Weißen einen regelrechten Schock aus. Diese Dörfer sind heute in einem sehr schlechten Zustand. Aber es gibt auch die mehr isolierten Dörfer wie Demini. In den vergangenen Jahren hat sich hier natürlich viel verändert, auch durch die Schule und die Krankenstation, in deren Nähe die Yanomami aus den Bergen gezogen sind. Die Alten hier tragen immer noch keine Kleidung. Früher waren sie fast immer angemalt und sie sind jagen gegangen, sie waren immer mit Pfeil und Bogen unterwegs. Heute sieht man die jungen Leute mit Shorts, die fassen kaum einen Bogen an, interessieren sich eher für Haarschnitte. Das ist so gesehen eigentlich eher ein visueller Wandel.
Die wenigen Alten im Dorf versuchen natürlich, ihre Werte aus der Vergangenheit zu bewahren. Das ist nicht leicht für sie, weil es eben so viele junge und energische Leute gibt. Aber sie erziehen diese Jugend zum Diskurs, besprechen mit ihnen die Veränderungen und auch die Konsequenzen. Es gibt viele junge Schamanen, mehr als 14 allein in diesem Haus. So gesehen bleibt die alte Kultur erhalten mit Zusätzen von neuen Einflüssen. Das Leben hier im Dorf Demini ist also so eine Art Laborsituation, der Versuch, eine Balance zwischen Tradition und Neuem zu finden.
Alle wichtigen Projekte der Yanomami-Indianer haben hier begonnen, das Schulprojekt und das Gesundheitsprojekt, das liegt vor allem daran, dass es hier den inzwischen international bekannten, sehr engagierten und charismatischen Davi Kopenawa Yanomami gibt, der sich seit 30 Jahren für sein Volk einsetzt und versucht, diese Balance zu erhalten.
Susanne Burkhardt: Sie haben gesagt, es gab in den letzten Jahren einen materiellen Wandel, also es gibt die jungen Leute, die jetzt Shorts tragen oder einen besonderen Haarschnitt haben. Was glauben Sie, wie viel Zivilisation verträgt die Kultur der Yanomami, ohne Schaden zu leiden?
Albert: Solange das Geld hier keine Rolle spielt und sie also jagen gehen, ihren Garten bestellen und es keine Gehälter gibt, also niemand für seine Arbeit bezahlt wird, so lange kann die Kultur der Yanomami bestehen, mit vielen kleinen Veränderungen. Wenn sie aber arbeiten müssten, um Geld zu verdienen, um davon ihr Essen zu kaufen, das würde alle ihre sozialen Beziehungen völlig verändern. Aber diese Gefahr ist nicht so groß, die Yanomami-Indianer leben mehr als 300 Kilometer von der Stadt entfernt, und wenn sie was essen wollen, müssen sie jagen gehen oder ihren Garten bestellen.
Die Teenager hier machen natürlich viele verrückte Sachen und probieren alles mögliche Neue aus, wie in jeder Gesellschaft. Aber wenn sie sich dann in eine Frau verlieben, dann müssen sie nach den Regeln des Stammes dem Schwiegervater helfen, und auch den vorgegebenen Rahmen des Zusammenlebens einhalten. Wenn sie das nicht tun, bleibt ihnen nur die Möglichkeit, in die Stadt zu gehen oder zu sterben. Denn man kann hier nicht allein ohne die Gemeinschaft überleben. Es gibt also nur die Wahl zwischen einem Leben in einer traditionellen Gemeinschaft oder in der Stadt.
Burkhardt: Die Yanomami-Kultur ist eine orale Kultur. Sie haben gemeinsam mit den Yanomami-Indianern eine Schriftform entwickelt, sodass die Indianer selber lesen und schreiben lernen können. Es gibt auch eine Schule hier im Dorf. Wie hat das Einführen einer Schrift das Leben der Yanomami verändert?
Albert: Die Schule hier hat eine andere Bedeutung als in unserer westlichen Gesellschaft, sie ist ein Werkzeug, eine politische Notwendigkeit, um mit der Außenwelt verhandeln zu können. Viele der Kinder gehen in die Schule wie Touristen, die finden das ganz witzig, weil es neu ist, weil man hier zusammenkommt. Einige sind mehr an der Schule interessiert, die wollen dann selbst Lehrer werden, und diese jungen Leute sind wichtig als Kontaktpersonen zur Welt der Weißen. Der Hauptzweck dieser Schule besteht also im Grunde darin, ein paar Leute herauszupicken, die sich für das Schreiben interessieren. Schreiben und Lesen lernt man nur für den Dialog mit den Weißen, hier im Dorf braucht man das nicht, hier gibt es kein Geld, also auch keine Bücher, die man lesen könnte.
Burkhardt: Das Leben der Yanomami hier ist ganz einfach, es wird gekocht auf offenem Feuer, es gibt keinen Strom, und doch arbeiten einige der Lehrer in der Schule mit Laptops und haben damit offensichtlich ganze Dekaden von technischer Entwicklung übersprungen. Wie gehen die Yanomami damit um, dass sie plötzlich elektrische Geräte hier benutzen können wie Computer, mit denen sie vorher überhaupt keinen Kontakt hatten? Ist die Vorstellung zum Beispiel, dass es irgendwann mal Zugang zu Internet gibt hier, … Wie würde die Einführung des Internets hier das Leben verändern können, können Sie sich das vorstellen?
Albert: Das ist für sie keine Entwicklung, so wie wir das verstehen würden. Sie integrieren einfach in ihre Gemeinschaft neue Objekte, weil sie die brauchen können. Viel mehr Bedeutung und Einfluss hat das nicht. Das Internet könnte natürlich eher ein Problem sein in dieser isolierten Welt, das ist aber ein generelles Problem. Auch die Schule ist ein sehr ambivalentes Werkzeug, auf der einen Seite ist man dadurch besser auf den Kontakt mit der Außenwelt vorbereitet und kann seine politischen Interessen nach außen formulieren, seine Rechte verteidigen, andererseits entsteht dadurch eine kleine Elite, und es ist in jeder Gesellschaft schwer, solche Eliten zu kontrollieren. Was das angeht, wird es also sicher noch viele Probleme in der Zukunft geben, aber im Vergleich zu vielen anderen Indianern in Brasilien und anderswo ist das eine Luxussituation. Die meisten von denen haben nicht mal die Möglichkeit, darüber nachzudenken und zu diskutieren, welche Veränderungen gut für sie sind.
Burkhardt: Welche Rolle spielt die eigene Sprache, die ja jetzt durch die Schule auch schriftlich weitergegeben wird?
Albert: Ich glaube, wir haben eine ziemlich naive Vorstellung davon, was Kultur genau bedeutet. Viele Weiße kommen und sagen, wenn die Indianer Kleidung tragen und irgendwelche westlichen Industrieprodukte benutzen: Oh, die verlieren ihre Kultur, als wäre Kultur ein Postkartenmotiv, aber das ist Quatsch. Kultur ist vor allem die Sprache, die man seit der Kindheit im Kopf hat und durch die man seine Realität gestaltet. Die größte Gefahr für die Indianer wäre also – abgesehen davon, dass sie ihr Land verlieren oder an Krankheiten zugrunde gehen –, dass sie ihre Sprache verlieren. Wenn nämlich die jungen Leute glauben, dass die traditionelle Yanomami-Sprache etwas ist, was nur mit alten Leuten zu tun hat, also mit der Vergangenheit verbunden ist, wenn sie zu einer Sprache verkommt, die keine Wörter hat für die neuen Dinge der Weißen wie Computer oder Gabel, dann verlieren sie ihr Interesse daran und die Sprache verschwindet. Und das wäre schlimm für ihre Kultur.
Deshalb war es uns wichtig, für diese neuen Begriffe Worte in der Yanomami-Sprache zu finden, und dieser Prozess war sehr erfolgreich. Die Indianer sind sehr stolz auf ihre Sprache und inzwischen sogar gewohnt, dass Weiße ihre Sprache lernen. Ich persönlich fände es natürlich besser, wenn es gar keine Schule hier gäbe, aber da die Yanomami mit den Weißen zu tun haben, müssen sie darauf vorbereitet werden, und das funktioniert so ganz gut. Die Yanomami, die in den Bergen wohnten, wussten früher nichts über die Goldgräber, die in ihr Gebiet kamen. Am Anfang, als diese Weißen noch Angst vor den Indianern hatten, waren sie freundlich zu ihnen, machten ihnen Geschenke, brachten Essen. Aber als sie immer mehr wurden, begannen sie, die Indianer zu verachten und zu töten. Zwischen 1987 und 1991 starben 30 Prozent der Yanomami, vor allem an eingeschleppten Krankheiten der Goldsucher.
Hätten sie vorher gewusst, dass diese Weißen ihnen Unglück bringen würden, hätten sie das mit ihnen gemacht, was heute geschieht. Als vor einigen Jahren ein Goldsucher hier auftauchte, haben sie seine ganze Ausrüstung zerstört, ihn schwarz und rot angemalt und zurück in die Stadt geschickt. Heute kann man den jungen Yanomami nichts mehr vormachen, sie kennen die Geschichte. Heute rufen sie einfach die Polizei oder machen digitale Fotos von Goldsuchern in ihrem Gebiet und stellen sie auf die Internetseite ihrer Organisation, und dann übernehmen internationale Hilfsorganisationen diese Bilder und üben so wirksam Druck auf die brasilianische Regierung aus. Durch das Wissen können Sie sich heute also viel effektiver verteidigen.
Burkhardt: Nachdem Sie seit drei Jahrzehnten mit den Yanomami arbeiten – gibt es etwas, was Sie bis heute überhaupt nicht verstehen und nicht nachvollziehen können?
Albert: Nein, ich bin ja immer noch dabei, diese Kultur kennenzulernen, da gibt es viele Dinge, die schwer zu verstehen sind, zum Beispiel der Schamanismus. Wenn man als Weißer die Drogen nimmt, die die Yanomami verwenden, dann sieht man nur das, was man sowieso im Gehirn hat. Du kannst als Weißer nicht das sehen, was die Yanomami sehen, wenn sie die Droge (…) nehmen. Deshalb bin ich persönlich mit dem Schamanismus bis heute nicht weitergekommen, weil die Yanomami mir Visionen beschreiben, zu denen es in unserer Realität keinen Bezug gibt. Das ist sehr schwer zu verstehen für uns Weiße.
Was die anderen Dinge angeht, gefällt mir die Idee, dass man eben nicht alles verstehen kann. Man kann nicht sagen, die Yanomami sind so oder so, das ist unmöglich. Ich kann zehn Mal so viel Zeit mit ihnen verbringen und ich werde trotzdem nie sagen können, ja, ich verstehe alles. Das ist wie mit dem Regenwald, es bleibt eine unendliche Dimension. Für mich selber ist es ein sehr schöner Gedanke zu wissen, dass es die Yanomami gibt und eine Lebensform, die parallel zu unserer eigenen Lebenswelt existiert. Wenn ich in der Stadt bin und Auto fahre oder am Computer im Büro sitze, dann denke ich an dieses Dorf und an die Yanomami und ihr Leben hier.
Ich finde es so wunderbar und wichtig, dass es diese verschiedenen Formen von menschlichem Leben gibt, kulturelle Vielfalt ist für das Überleben der Menschheit genauso wichtig wie die biologische Vielfalt. Ich glaube, wir brauchen diesen anderen Blick auf uns, weil die Vorstellung, dass es nichts anderes gibt als das Leben, wie wir es leben, dass das überall das gleiche ist, diese Vorstellung finde ich katastrophal.
Karkowsky: Sie hörten den französischen Anthropologen Bruce Albert im Gespräch mit Susanne Burkhardt im Yanomami-Dorf ??? im brasilianischen Regenwald. Bruce Albert hat ein Buch geschrieben über seine 30 Jahre währende Freundschaft zum Yanomami-Schamanen Davi Kopenawa, dieses Buch liegt nur in Englisch und Französisch vor unter dem Titel "La chute du ciel", also der Einsturz des Himmels. Eine deutsche Übersetzung ist geplant.
Bruce Albert: Das hängt sehr von der Region ab, in der die Indianer leben. In manchen Gegenden – wie zum Beispiel dort, wo Mitte der 70er-Jahre Straßen hingebaut wurden – löste der Kontakt zu den Weißen einen regelrechten Schock aus. Diese Dörfer sind heute in einem sehr schlechten Zustand. Aber es gibt auch die mehr isolierten Dörfer wie Demini. In den vergangenen Jahren hat sich hier natürlich viel verändert, auch durch die Schule und die Krankenstation, in deren Nähe die Yanomami aus den Bergen gezogen sind. Die Alten hier tragen immer noch keine Kleidung. Früher waren sie fast immer angemalt und sie sind jagen gegangen, sie waren immer mit Pfeil und Bogen unterwegs. Heute sieht man die jungen Leute mit Shorts, die fassen kaum einen Bogen an, interessieren sich eher für Haarschnitte. Das ist so gesehen eigentlich eher ein visueller Wandel.
Die wenigen Alten im Dorf versuchen natürlich, ihre Werte aus der Vergangenheit zu bewahren. Das ist nicht leicht für sie, weil es eben so viele junge und energische Leute gibt. Aber sie erziehen diese Jugend zum Diskurs, besprechen mit ihnen die Veränderungen und auch die Konsequenzen. Es gibt viele junge Schamanen, mehr als 14 allein in diesem Haus. So gesehen bleibt die alte Kultur erhalten mit Zusätzen von neuen Einflüssen. Das Leben hier im Dorf Demini ist also so eine Art Laborsituation, der Versuch, eine Balance zwischen Tradition und Neuem zu finden.
Alle wichtigen Projekte der Yanomami-Indianer haben hier begonnen, das Schulprojekt und das Gesundheitsprojekt, das liegt vor allem daran, dass es hier den inzwischen international bekannten, sehr engagierten und charismatischen Davi Kopenawa Yanomami gibt, der sich seit 30 Jahren für sein Volk einsetzt und versucht, diese Balance zu erhalten.
Susanne Burkhardt: Sie haben gesagt, es gab in den letzten Jahren einen materiellen Wandel, also es gibt die jungen Leute, die jetzt Shorts tragen oder einen besonderen Haarschnitt haben. Was glauben Sie, wie viel Zivilisation verträgt die Kultur der Yanomami, ohne Schaden zu leiden?
Albert: Solange das Geld hier keine Rolle spielt und sie also jagen gehen, ihren Garten bestellen und es keine Gehälter gibt, also niemand für seine Arbeit bezahlt wird, so lange kann die Kultur der Yanomami bestehen, mit vielen kleinen Veränderungen. Wenn sie aber arbeiten müssten, um Geld zu verdienen, um davon ihr Essen zu kaufen, das würde alle ihre sozialen Beziehungen völlig verändern. Aber diese Gefahr ist nicht so groß, die Yanomami-Indianer leben mehr als 300 Kilometer von der Stadt entfernt, und wenn sie was essen wollen, müssen sie jagen gehen oder ihren Garten bestellen.
Die Teenager hier machen natürlich viele verrückte Sachen und probieren alles mögliche Neue aus, wie in jeder Gesellschaft. Aber wenn sie sich dann in eine Frau verlieben, dann müssen sie nach den Regeln des Stammes dem Schwiegervater helfen, und auch den vorgegebenen Rahmen des Zusammenlebens einhalten. Wenn sie das nicht tun, bleibt ihnen nur die Möglichkeit, in die Stadt zu gehen oder zu sterben. Denn man kann hier nicht allein ohne die Gemeinschaft überleben. Es gibt also nur die Wahl zwischen einem Leben in einer traditionellen Gemeinschaft oder in der Stadt.
Burkhardt: Die Yanomami-Kultur ist eine orale Kultur. Sie haben gemeinsam mit den Yanomami-Indianern eine Schriftform entwickelt, sodass die Indianer selber lesen und schreiben lernen können. Es gibt auch eine Schule hier im Dorf. Wie hat das Einführen einer Schrift das Leben der Yanomami verändert?
Albert: Die Schule hier hat eine andere Bedeutung als in unserer westlichen Gesellschaft, sie ist ein Werkzeug, eine politische Notwendigkeit, um mit der Außenwelt verhandeln zu können. Viele der Kinder gehen in die Schule wie Touristen, die finden das ganz witzig, weil es neu ist, weil man hier zusammenkommt. Einige sind mehr an der Schule interessiert, die wollen dann selbst Lehrer werden, und diese jungen Leute sind wichtig als Kontaktpersonen zur Welt der Weißen. Der Hauptzweck dieser Schule besteht also im Grunde darin, ein paar Leute herauszupicken, die sich für das Schreiben interessieren. Schreiben und Lesen lernt man nur für den Dialog mit den Weißen, hier im Dorf braucht man das nicht, hier gibt es kein Geld, also auch keine Bücher, die man lesen könnte.
Burkhardt: Das Leben der Yanomami hier ist ganz einfach, es wird gekocht auf offenem Feuer, es gibt keinen Strom, und doch arbeiten einige der Lehrer in der Schule mit Laptops und haben damit offensichtlich ganze Dekaden von technischer Entwicklung übersprungen. Wie gehen die Yanomami damit um, dass sie plötzlich elektrische Geräte hier benutzen können wie Computer, mit denen sie vorher überhaupt keinen Kontakt hatten? Ist die Vorstellung zum Beispiel, dass es irgendwann mal Zugang zu Internet gibt hier, … Wie würde die Einführung des Internets hier das Leben verändern können, können Sie sich das vorstellen?
Albert: Das ist für sie keine Entwicklung, so wie wir das verstehen würden. Sie integrieren einfach in ihre Gemeinschaft neue Objekte, weil sie die brauchen können. Viel mehr Bedeutung und Einfluss hat das nicht. Das Internet könnte natürlich eher ein Problem sein in dieser isolierten Welt, das ist aber ein generelles Problem. Auch die Schule ist ein sehr ambivalentes Werkzeug, auf der einen Seite ist man dadurch besser auf den Kontakt mit der Außenwelt vorbereitet und kann seine politischen Interessen nach außen formulieren, seine Rechte verteidigen, andererseits entsteht dadurch eine kleine Elite, und es ist in jeder Gesellschaft schwer, solche Eliten zu kontrollieren. Was das angeht, wird es also sicher noch viele Probleme in der Zukunft geben, aber im Vergleich zu vielen anderen Indianern in Brasilien und anderswo ist das eine Luxussituation. Die meisten von denen haben nicht mal die Möglichkeit, darüber nachzudenken und zu diskutieren, welche Veränderungen gut für sie sind.
Burkhardt: Welche Rolle spielt die eigene Sprache, die ja jetzt durch die Schule auch schriftlich weitergegeben wird?
Albert: Ich glaube, wir haben eine ziemlich naive Vorstellung davon, was Kultur genau bedeutet. Viele Weiße kommen und sagen, wenn die Indianer Kleidung tragen und irgendwelche westlichen Industrieprodukte benutzen: Oh, die verlieren ihre Kultur, als wäre Kultur ein Postkartenmotiv, aber das ist Quatsch. Kultur ist vor allem die Sprache, die man seit der Kindheit im Kopf hat und durch die man seine Realität gestaltet. Die größte Gefahr für die Indianer wäre also – abgesehen davon, dass sie ihr Land verlieren oder an Krankheiten zugrunde gehen –, dass sie ihre Sprache verlieren. Wenn nämlich die jungen Leute glauben, dass die traditionelle Yanomami-Sprache etwas ist, was nur mit alten Leuten zu tun hat, also mit der Vergangenheit verbunden ist, wenn sie zu einer Sprache verkommt, die keine Wörter hat für die neuen Dinge der Weißen wie Computer oder Gabel, dann verlieren sie ihr Interesse daran und die Sprache verschwindet. Und das wäre schlimm für ihre Kultur.
Deshalb war es uns wichtig, für diese neuen Begriffe Worte in der Yanomami-Sprache zu finden, und dieser Prozess war sehr erfolgreich. Die Indianer sind sehr stolz auf ihre Sprache und inzwischen sogar gewohnt, dass Weiße ihre Sprache lernen. Ich persönlich fände es natürlich besser, wenn es gar keine Schule hier gäbe, aber da die Yanomami mit den Weißen zu tun haben, müssen sie darauf vorbereitet werden, und das funktioniert so ganz gut. Die Yanomami, die in den Bergen wohnten, wussten früher nichts über die Goldgräber, die in ihr Gebiet kamen. Am Anfang, als diese Weißen noch Angst vor den Indianern hatten, waren sie freundlich zu ihnen, machten ihnen Geschenke, brachten Essen. Aber als sie immer mehr wurden, begannen sie, die Indianer zu verachten und zu töten. Zwischen 1987 und 1991 starben 30 Prozent der Yanomami, vor allem an eingeschleppten Krankheiten der Goldsucher.
Hätten sie vorher gewusst, dass diese Weißen ihnen Unglück bringen würden, hätten sie das mit ihnen gemacht, was heute geschieht. Als vor einigen Jahren ein Goldsucher hier auftauchte, haben sie seine ganze Ausrüstung zerstört, ihn schwarz und rot angemalt und zurück in die Stadt geschickt. Heute kann man den jungen Yanomami nichts mehr vormachen, sie kennen die Geschichte. Heute rufen sie einfach die Polizei oder machen digitale Fotos von Goldsuchern in ihrem Gebiet und stellen sie auf die Internetseite ihrer Organisation, und dann übernehmen internationale Hilfsorganisationen diese Bilder und üben so wirksam Druck auf die brasilianische Regierung aus. Durch das Wissen können Sie sich heute also viel effektiver verteidigen.
Burkhardt: Nachdem Sie seit drei Jahrzehnten mit den Yanomami arbeiten – gibt es etwas, was Sie bis heute überhaupt nicht verstehen und nicht nachvollziehen können?
Albert: Nein, ich bin ja immer noch dabei, diese Kultur kennenzulernen, da gibt es viele Dinge, die schwer zu verstehen sind, zum Beispiel der Schamanismus. Wenn man als Weißer die Drogen nimmt, die die Yanomami verwenden, dann sieht man nur das, was man sowieso im Gehirn hat. Du kannst als Weißer nicht das sehen, was die Yanomami sehen, wenn sie die Droge (…) nehmen. Deshalb bin ich persönlich mit dem Schamanismus bis heute nicht weitergekommen, weil die Yanomami mir Visionen beschreiben, zu denen es in unserer Realität keinen Bezug gibt. Das ist sehr schwer zu verstehen für uns Weiße.
Was die anderen Dinge angeht, gefällt mir die Idee, dass man eben nicht alles verstehen kann. Man kann nicht sagen, die Yanomami sind so oder so, das ist unmöglich. Ich kann zehn Mal so viel Zeit mit ihnen verbringen und ich werde trotzdem nie sagen können, ja, ich verstehe alles. Das ist wie mit dem Regenwald, es bleibt eine unendliche Dimension. Für mich selber ist es ein sehr schöner Gedanke zu wissen, dass es die Yanomami gibt und eine Lebensform, die parallel zu unserer eigenen Lebenswelt existiert. Wenn ich in der Stadt bin und Auto fahre oder am Computer im Büro sitze, dann denke ich an dieses Dorf und an die Yanomami und ihr Leben hier.
Ich finde es so wunderbar und wichtig, dass es diese verschiedenen Formen von menschlichem Leben gibt, kulturelle Vielfalt ist für das Überleben der Menschheit genauso wichtig wie die biologische Vielfalt. Ich glaube, wir brauchen diesen anderen Blick auf uns, weil die Vorstellung, dass es nichts anderes gibt als das Leben, wie wir es leben, dass das überall das gleiche ist, diese Vorstellung finde ich katastrophal.
Karkowsky: Sie hörten den französischen Anthropologen Bruce Albert im Gespräch mit Susanne Burkhardt im Yanomami-Dorf ??? im brasilianischen Regenwald. Bruce Albert hat ein Buch geschrieben über seine 30 Jahre währende Freundschaft zum Yanomami-Schamanen Davi Kopenawa, dieses Buch liegt nur in Englisch und Französisch vor unter dem Titel "La chute du ciel", also der Einsturz des Himmels. Eine deutsche Übersetzung ist geplant.