"Antichrist"

Während ein Paar miteinander schläft, stürzt das gemeinsame Kind aus dem Fenster. Was folgt, ist ein gewalttätiger Geschlechterkampf.
BRD, Frankreich, Italien, Schweden, Dänemark, Polen 2009, Regie: Lars von Trier, Hauptdarsteller: Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg, 108 Minuten, ab 18 Jahren

Der dritte Film, den wir vorstellen möchten, ist Lars von Triers Skandalwerk "Antichrist". Bei den Filmfestspielen in Cannes bekam Hauptdarstellerin Charlotte Gainsbourg den Preis für die beste Darstellerin. Und man hat nach der Festivalberichterstattung das Gefühl, dass man den Film schon gesehen hat; dass man vor allem die skandalösen, obszönen, pornographischen Bilder schon ausführlich besprochen bekommen hat. Von vielen Kollegen konnte man lesen und hören, wie schockiert sie waren, als sie "Antichrist" sahen.

Ich war merkwürdigerweise eher ergriffen. Ich glaube, dass wir durch die Festivalberichterstattung von diesem Film einen falschen Eindruck bekommen haben. Ich finde, "Antichrist" sollte man nicht als Skandalfilm handeln, sondern als wunderbares, vielleicht verstörendes, aber großartig gespieltes filmisches Kunstwerk. Ein Mann und eine Frau – im Film Er und Sie genannt – haben Sex miteinander. Ja, das wir explizit gezeigt. Währenddessen klettert der kleine Sohn auf den Tisch, der am Fenster steht, und fällt hinaus.

Der Tod des Sohnes wirft Sie, die Mutter, in tiefe Verzweiflung; sie hat Schuldgefühle. Er, ihr Mann, Therapeut, tut das, was ein Therapeut nie tun darf, er fängt an, seine Frau zu therapieren. Um den letzten Schritt des therapeutischen Prozesses zu gehen, ziehen sich die beiden in ein Holzhaus zurück, das in einem einsamen Waldstück liegt. Soweit der Handlungsfaden. Aber der therapeutische Heilplan verläuft nicht programmgemäß.

Die Trauerarbeit läuft aus dem Ruder und endet in einem fulminanten Horrortrip, in dem Sex und Gewalt explodieren. Und da gibt es diese Bilder von Misshandlung, Machtkampf, sexueller Verstümmelung, da gibt es tatsächlich das Bild eines Penis, der Blut ejakuliert. Aber, und das ist mein Einwand gegen die Hasstiraden, die Lars von Trier ja teilweise über sich und seinen Film ergehen lassen musste und muss: In unzähligen Mainstreamfilmen gibt es viel drastischere Gewaltbilder, die lassen uns allerdings in der Regel kalt, weil sie nur Effekt sind.

Was bei von Triers "Antichrist" anders ist: Die Bilder von Gewalt und Sex – der bleibt ja in Hollywood ausgespart, während die Gewaltbilder explodieren -, die Bilder von Gewalt und Sex sind bei Lars von Trier Teil einer Geschichte, sie sind eingebunden in die Geschichte, und damit sind sie legitim. Sie in Frage zu stellen, ist albern.

Während man bei Quentin Tarantino schnell sagt, ach, ja, Gewalt, gut, aber eben stilisiert, ist doch cool, schockiert uns Lars von Trier – und hier gebe ich durchaus ein Geschocktsein zu -, wenn er zeigt, wie die Frau und der Mann Schritt für Schritt in den Wahnsinn abgleiten. Was meine Deutung der Geschichte von "Antichrist" ist.

Wie reich dieser Film ist in seinen suggestiven, mystischen Bildern, die man kaum in eine Erklärung, Klärung packen kann, lässt sich vielleicht daran ermessen, dass einige Filmzeitschriften inzwischen von Triers "Antichrist" mit Pro- und Contra-Besprechungen würdigen. Was ich angemessen finde.

Es sind immer wieder unterschiedliche Deutungen dieser Geschichte, an denen ich mich versuche. Und das finde ich an diesem großartigem Film so eindrucksvoll: Erzählt er von der zerstörerischen Kraft der weiblichen Sexualität? Vom nicht minder zerstörerischen Totalitätsanspruch männlicher Weltdeutungslogik?

Erzählt er in mythischen Waldbildern mit dem Fuchs als Hauptfigur vom Chaos des Kosmos? Was bedeutet ein Waldstück mit dem Namen "Eden", in dem der Tod das Regime übernimmt? Ich meine, die Frage ist bei großem Kino nicht, ob ich die Bilder deuten kann, sondern die Frage ist, ob mich der Film in den Sog seiner Bilder zieht. Und das schafft Lars von Trier mit "Antichrist" ohne Frage.