Antike Dramen in deutscher Kleinstadt
Der Held in Michael Roes' Roman "Ich weiß nicht mehr die Nacht" ist griechischer Abstammung. Tagsüber stählt Stevie seinen Körper am Reck, nachts gibt er den schweigsamen Barkeeper. Zuhause warten die Depressionen seines Vaters und das Begehren seiner Stiefmutter, das ihm zum Verhängnis wird.
"Ich weiß nicht mehr die Nacht" - in der Mitte des Romans von Michael Roes begegnet man dem Titel des Buches, der aus einem Gedicht des griechischen Nobelpreisträgers Odysseas Elytis stammt:
"Ich weiß nicht mehr die Nacht
Furchtbare Anonymität des Todes
Auf dem Grund meiner Seele wirft eine Sternenflotte Anker
Abendstern - du Wächter im Leuchten eines blauen Windes einer Insel..."
Vom melancholischen Glück der Gedichte Elytis' leuchtet allerdings wenig hinein in dieses Buch. Stevie, ein junger Mann um die 20, steht im Mittelpunkt dieser Geschichte. Tagsüber stählt er seinen Körper als Turner, bei einem Trainer, der ihm die karge Poesie von Ring und Reck nahe zu bringen versucht. Nachts wird Stevie zum Barkeeper, der seinen Ehrgeiz darin setzt, ohne ein einziges Wort durch die Nacht zu kommen. Manchmal gelingt ihm das sogar.
Dieser verschlossene junge Mann lebt bei seinem griechischen Vater Christos, der in einer kleinen Grenzstadt Westdeutschlands als Gebrauchtwagenhändler hängen geblieben ist, und bei seiner deutschen Stiefmutter Anna.
Stevies griechische Mutter ist tot, ihr Name war Antiope. Das legt schon früh einen bedeutungsschweren Schatten über Stevies Geschichte: In der griechischen Mythologie ist Antiope die Mutter des Hippolytos, der von seiner Stiefmutter Phädra begehrt wird. Als Hippolytos Phädra zurückweist, legt sie es auf seinen Tod an. Man ahnt also, was Stevie von seiner Stiefmutter drohen könnte.
Zunächst aber begleitet man diese kleine Familie durch ihren Alltag, eine Demonstrationsübung für misslingendes Leben. Christos will aufsteigen, kommt aber über das Schachern mit schrottreifen Gebrauchtwagen nicht hinaus, wenn er nicht gleich Autos klaut. Er liebt seine Frau Anna und versucht sich ihre Liebe nach klassischem Muster mit einer Modeboutique zu kaufen, was überraschenderweise nicht gelingt. Wie ein gefallener Engel geistert außerdem noch Annas Bruder Derek herum, ein Kleinstadtganove, der mit Erpressungen, Showkämpfen und Betrügereien seinen Schnitt macht.
Lange kann man hoffen, dass Stevie von diesem Gemisch aus Depression und Neid, Bosheit und Gewalt nicht angefallen wird. Er zieht sich in die Festung seines athletischen Körpers zurück, er verschließt die Ohren vor dem missmutigen Gerede, er hält sich an die Gedichte von Odysseas Elytis.
Auf dem nahe gelegenen Rhein zieht eines Tages eine Truppe von jugendlichen Bohemiens vorbei, die ihn mitnehmen will, hinaus aus dem Gefängnis der kleinen Stadt. Stevie bleibt da und gerät in ein Verhängnis, in das ihn die Schwäche seines Vaters, das Begehren seiner Stiefmutter und der eigene Stolz stürzen.
Michael Roes hat diese Geschichte in einer namenlosen Stadt in der Nähe zur holländischen Grenze angesiedelt, in einer seltsam zwischen der Vergangenheit und dem Heute changierenden Zeit. Griechische Antike und Gegenwart durchdringen das Geschehen in dieser Stadt, außerdem funken unklar motivierte Visionen von einem afrikanischen Stammesleben dazwischen.
Im Herzen dieser Geschichte leuchtet ein starkes Begehren, die Lust am männlichen Körper. Selten wurden Glied und Hoden zärtlicher, wärmer, erotischer beschrieben und angefasst. Da sich dieses Begehren in Michael Roes' Geschichte in heillosen Mutter-Sohn-Konstellationen entwickelt, ist kein rechter Segen dabei. Aber davon zu lesen, hat seinen eigenen Reiz.
Rezensiert von Frank Meyer
Michael Roes: Ich weiß nicht mehr die Nacht
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2008
228 Seiten. 19,80 Euro
"Ich weiß nicht mehr die Nacht
Furchtbare Anonymität des Todes
Auf dem Grund meiner Seele wirft eine Sternenflotte Anker
Abendstern - du Wächter im Leuchten eines blauen Windes einer Insel..."
Vom melancholischen Glück der Gedichte Elytis' leuchtet allerdings wenig hinein in dieses Buch. Stevie, ein junger Mann um die 20, steht im Mittelpunkt dieser Geschichte. Tagsüber stählt er seinen Körper als Turner, bei einem Trainer, der ihm die karge Poesie von Ring und Reck nahe zu bringen versucht. Nachts wird Stevie zum Barkeeper, der seinen Ehrgeiz darin setzt, ohne ein einziges Wort durch die Nacht zu kommen. Manchmal gelingt ihm das sogar.
Dieser verschlossene junge Mann lebt bei seinem griechischen Vater Christos, der in einer kleinen Grenzstadt Westdeutschlands als Gebrauchtwagenhändler hängen geblieben ist, und bei seiner deutschen Stiefmutter Anna.
Stevies griechische Mutter ist tot, ihr Name war Antiope. Das legt schon früh einen bedeutungsschweren Schatten über Stevies Geschichte: In der griechischen Mythologie ist Antiope die Mutter des Hippolytos, der von seiner Stiefmutter Phädra begehrt wird. Als Hippolytos Phädra zurückweist, legt sie es auf seinen Tod an. Man ahnt also, was Stevie von seiner Stiefmutter drohen könnte.
Zunächst aber begleitet man diese kleine Familie durch ihren Alltag, eine Demonstrationsübung für misslingendes Leben. Christos will aufsteigen, kommt aber über das Schachern mit schrottreifen Gebrauchtwagen nicht hinaus, wenn er nicht gleich Autos klaut. Er liebt seine Frau Anna und versucht sich ihre Liebe nach klassischem Muster mit einer Modeboutique zu kaufen, was überraschenderweise nicht gelingt. Wie ein gefallener Engel geistert außerdem noch Annas Bruder Derek herum, ein Kleinstadtganove, der mit Erpressungen, Showkämpfen und Betrügereien seinen Schnitt macht.
Lange kann man hoffen, dass Stevie von diesem Gemisch aus Depression und Neid, Bosheit und Gewalt nicht angefallen wird. Er zieht sich in die Festung seines athletischen Körpers zurück, er verschließt die Ohren vor dem missmutigen Gerede, er hält sich an die Gedichte von Odysseas Elytis.
Auf dem nahe gelegenen Rhein zieht eines Tages eine Truppe von jugendlichen Bohemiens vorbei, die ihn mitnehmen will, hinaus aus dem Gefängnis der kleinen Stadt. Stevie bleibt da und gerät in ein Verhängnis, in das ihn die Schwäche seines Vaters, das Begehren seiner Stiefmutter und der eigene Stolz stürzen.
Michael Roes hat diese Geschichte in einer namenlosen Stadt in der Nähe zur holländischen Grenze angesiedelt, in einer seltsam zwischen der Vergangenheit und dem Heute changierenden Zeit. Griechische Antike und Gegenwart durchdringen das Geschehen in dieser Stadt, außerdem funken unklar motivierte Visionen von einem afrikanischen Stammesleben dazwischen.
Im Herzen dieser Geschichte leuchtet ein starkes Begehren, die Lust am männlichen Körper. Selten wurden Glied und Hoden zärtlicher, wärmer, erotischer beschrieben und angefasst. Da sich dieses Begehren in Michael Roes' Geschichte in heillosen Mutter-Sohn-Konstellationen entwickelt, ist kein rechter Segen dabei. Aber davon zu lesen, hat seinen eigenen Reiz.
Rezensiert von Frank Meyer
Michael Roes: Ich weiß nicht mehr die Nacht
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2008
228 Seiten. 19,80 Euro