"Antikörper" auf dem Nordwind-Festival

Hart und herzzereißend

"Antikörper" von Michail Patlasow beim Nordwind-Festival
"Antikörper" von Michail Patlasow beim Nordwind-Festival © Jana Pirozkove
Von Elisabeth Nehring |
Die brisanteste Produktion, die auf dem Nordwind-Festival gezeigt wird, ist "Antikörper". Eigentlich ist es gar kein Theaterstück, sondern eher eine Dokumentation. Es erzählt die Geschichte von Timur, der in Russland von Nazis totgeprügelt wurde.
Zuckende Leiber überall auf der Bühne – sind es Menschen oder Tiere? Einzelne Individuen oder eine amorphe organische Masse? Mitglieder der Zivilisation oder doch Ungeheuer? Die isländische Choreographin Erna Omarsdottir und ihr belgischer Kollege Damian Jalet spielen in ihrer endzeitlich gestimmten Tanzproduktion "Black Marrow" mit den Identitäten jener Wesen, die sie zitternd, zappelnd und sich windend über die Bühne schicken.
Auch der in Wien lebende russische Performer Oleg Soulimenko versucht sich in seinem Solo "Meet the Shaman" an einem Rollenwechsel. Dafür ist er an die Ränder des russischen Reiches gefahren und hat sich – nicht ganz überzeugend – in die Kunst mongolischer Schamanen einweisen lassen.
Doch die brisanteste und bewegendste Produktion des bisherigen Nordwind-Festivalprogramms entspringt weder künstlerischer Phantasie noch ursprünglichen Ritualen, sondern ist der harten Wirklichkeit in der Mitte Russlands abgeschaut.
Es geht um eine reale Geschichte
"Antikörper" beschäftigt sich mit der realen Geschichte des jungen Antifaschisten Timur, der vor zehn Jahren mitten in St. Petersburg von einer Gruppe Neonazis ermordet wurde. Die Interviews, die ein russischer Journalist mit vielen direkt und indirekt Beteiligten geführt hat, dienten Regisseur Michail Patlasow als Grundlage für die Inszenierung.
"Es ist kein Theater im eigentlichen Sinne, sondern ein dokumentarisches Stück. Es gibt keine erfundenen Texte, sondern kombiniert verschiedene Ausschnitte aus den Interviews – mit dem Mörder, seinen faschistischen Freunde, aber auch jungen Antifaschisten. Das Wichtigste sind jedoch die Stimmen der Mütter von jungen Menschen, die sich radikalisieren."
Die Schauspielerinnen Alla Emintseva und Olga Belinskaya spielen die Mütter des ermordeten Timurs und seines Mörders Pascha; sie erzählen von ihren Söhnen, die sich nur ein einziges, fatales Mal im Leben begegnet sind. Während sich Pascha, der später zum Mörder wird, mit Neonazis zusammentut und sich immer mehr in deren zynische Ideologie hineinziehen lässt, lernen wir den ermordeten Timur als Idealisten, ja Moralisten kennen, der an sich und seine Umgebung hohe Ansprüche stellt. Timur war Mitglied einer antifaschistischen Studentengruppe.
"Die antifaschistische Bewegung entstand in Russland Ende der 90er-Jahre – als Reaktion auf die immer stärker werdenden faschistischen und nazistischen Strömungen. Einige von denen verbinden ihre Ideologie mit heidnischen Kulten. Das ist bei vielen jungen Leuten sehr beliebt."
Erinnerungen an ein viel zu kurzes Leben
"Antikörper" ist ein hartes und zugleich herzzerreißendes Stück. Der Schmerz der Mütter steht ungefiltert neben den menschenverachtenden, brutalen Aussagen junger Neonazis, persönliche Erinnerungen an das kurze Leben eines jungen Idealisten neben von russischem Nationalismus durchtränkten Statements. Verwackelte Videobilder zeigen die Gesichter der Schauspieler aus nächster Nähe oder Originalaufnahmen, in denen der junge Pascha in Anwesenheit der Polizei den Mord an Timur nachstellt. Das Wirrwarr aus beweglichen Türen, Kästen, Tischen und Bänken auf der Bühne scheint den realen Aufruhr innerhalb der russischen Gesellschaft zu spiegeln.
Trotz der manchmal etwas holprigen und unstimmigen Übertitelung des russischen Textes bestes politisches Dokumentartheater – und das in Zeiten, in denen in Russland ein Fall wie der des verhafteten Aktionskünstlers Piotr Pawlenski nur einer von vielen ist.
"Wenn man von heute aus schaut, hat sich die Situation des politischen Theaters in Russland sehr stark verändert. Das Stück 'Antikörper' ist ja bereits vor vier Jahren entstanden und wir betrachten die Inszenierung als eine Art 'Denkmal der Freiheit'. Heute erscheint es fast unglaublich, dass es einmal möglich war, so etwas zu inszenieren und wäre bei den ganzen Einschränkungen durch die Zensur gar nicht mehr vorstellbar. Immerhin können wir froh sein, dass das Stück überhaupt noch gezeigt werden kann."

Mehr Informationen zum "Nordwind-Festival" auf dessen Homepage

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