Mehr zu dem Thema lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Zeithistorische Forschungen".
Umstrittene Denkmuster in der 68er-Linken
16:21 Minuten
Kritik an der Politik Israels, Israelfeindschaft, Antisemitismus: In der Debatte um den Historiker Achille Mbembe ist zu beobachten, wie Haltungen und Begriffe auch in linken Milieus verschwimmen. Ein Blick ins Jahr 1969 schafft etwas Klarheit.
Dan Diner ist 23 Jahre alt, als er am 9. Juni 1969 im Hörsaal VI der Goethe-Uni Frankfurt am Main sitzt. Diner, seit langem ein renommierter Historiker, war damals noch Jurastudent und Vorsitzender des Bundesverbandes Jüdischer Studenten in Deutschland – kurz BJSD. Der Mann neben ihm ist mehr als doppelt so alt. Es ist Asher Ben-Natan, seit einigen Jahren der erste Botschafter Israels in der Bundesrepublik. Dan Diner hat ihn zur Diskussion in die Uni eingeladen.
Juni 1969 - Diskussion in der Goethe-Universität
Auf einem Foto, das damals aufgenommen wurde, sieht man den Studenten und späteren Verleger Karl Dietrich -"KD"- Wolff, der mit Megafon die Menge gegen den Botschafter anstachelt. Viele Studierende - auch führende Vertreter des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS – sehen die Politik Israels sehr kritisch und sympathisieren mit der Sache der Palästinenser.
Im Publikum sitzt Abdallah Frangi, der Vorsitzende der General-Union Palästinensischer Studenten (GUPS): "Wir hatten viele Palästinenser, die hier studiert haben. Und wir hatten gute Organisationen, die GUPS, also General Union Palästinensischer Studenten, und GUPA waren die stärksten Organisationen in der arabischen Welt. Wir waren sehr gut organisiert."
GUPA – das ist die Abkürzung für "Generalunion Palästinensischer Arbeiter". Sie ist damals vor allem in Deutschland aktiv, erklärt Frangi, "und nicht in den anderen europäischen Staaten, weil wir eine große Zahl von Palästinensern hatten, die in Offenbach und Frankfurt gearbeitet haben."
"Der Nahe Osten im Frankfurter Westend". So ist der Aufsatz überschrieben, den die Historikerin Zarin Aschrafi unlängst in der Zeitschrift "Zeithistorische Forschungen" veröffentlicht hat. Darin schildert sie die politischen Auseinandersetzungen um Israel und Palästina, die während der Studentenbewegung in Frankfurt am Main heftig geführt wurden.
Die "Deutsche Bande" lebte in Frankfurt
Auch mit der Rolle Abdallah Frangis als einem der Köpfe der in Deutschland aktiven Palästinenser-Gruppe setzt sich Zarin Aschrafi auseinander. Die Gruppe wurde vom damaligen PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat gefördert.
"Natürlich gab es auch in anderen Städten in der Bundesrepublik sehr aktive palästinensische Studierendengruppen", erklärt sie. "Doch in Frankfurt lebte die von Arafat durchaus anerkennend und wertschätzend gemeinte ‚Deutsche Bande‘ – das heißt, eine Gruppe von palästinensischen Aktivisten, die für ihr politisches Engagement geschätzt wurde – nicht zuletzt aufgrund ihrer Vertrautheit mit der deutschen Politiklandschaft, die sie durch ihre langjährigen Aufenthalte in der Bundesrepublik hatte."
Insbesondere seit dem für Israel siegreichen sogenannten "Sechstagekrieg" vom Juni 1967 hatte sich die Stimmung gegenüber dem jüdischen Staat in der deutschen Studentenbewegung geändert. Der SDS stellte Israel mit einer Resolution das erste Mal regelrecht an den Pranger, so der Historiker der Studentenbewegung, Wolfgang Kraushaar.
Der Vorwurf: "Dass Israel nichts anderes sei als der vorgeschobene Posten des US-Imperialismus im Nahen Osten", erläutert Wolfgang Kraushaar. "Und damit sind im Grunde genommen alle historischen Bedenken relativiert, wenn nicht gar ignoriert worden. Und die Bühne wurde frei gemacht für eine sehr enge Kooperation mit den Palästinensern. Und das hat sich besonders stark niedergeschlagen in den Gründungsakten der ersten linksterroristischen Gruppierungen. Sei es der Tupamaros, dann der Roten Armee Fraktion, aber auch denen, die dann gefolgt sind."
Israels Botschafter wird lautstark übertönt
Im Juni 1969 versucht der israelische Botschafter Asher Ben-Natan noch, mit den Studierenden zu diskutieren. Doch die Stimmung bei den radikal Linken ist aufgeladen. "Shalom gleich Napalm" wird bei Protestkundgebungen gerufen.
Eine große Dummheit nennt das der ehemalige SDS-Aktivist Daniel Cohn-Bendit heute: "Genau wie es damals zustande kam: ‚USA-SA-SS‘. Da waren wir auch nicht die Schlausten. Oder diejenigen, die das geschrien haben. Ich glaube, das habe ich kaum über die Lippen gekriegt, weil es natürlich eine Verharmlosung der SS ist, bei allen Schrecken des Vietnamkrieges, ja. Es gibt so – ich wollte sagen, Ausrutscher - das ist ja viel mehr als ein Ausrutscher, solche Fehlentwicklungen öfters."
Asher Ben-Natan wird am 9.Juni 1969 in der Uni-Veranstaltung vom Publikum übertönt, das lautstark Parolen skandiert. Irgendwann wird ihm das Mikrofonkabel durchtrennt.
Auch seine Biografie als NS-Verfolgter und späterem Nazi-Jäger schützt Asher Ben-Natan nicht vor dieser Demütigung. Er war am 15. Februar 1921 in Wien als Artur Piernikarz geboren worden. 1938 floh er als 17-Jähriger vor Hitler nach Palästina, lebte in einem Kibbuz. Nach Kriegsende kehrt er als Korrespondent israelischer Medien nach Wien zurück und organisiert für die zionistische Untergrund-Organisation Hagana die Auswanderung vieler Juden nach Palästina.
Gleichzeitig sammelt der Mann, der jetzt offiziell Ben-Natan heißt, unter dem Decknamen "Artur Pier" in Österreich und Deutschland Material über NS-Kriegsverbrecher und übergibt es dem Nürnberger Tribunal. Der engagierte Nazi-Gegner entdeckt im österreichischen Linz das einzige Foto Adolf Eichmanns, das später dessen Enttarnung in Südamerika möglich macht.
"Man war überzeugt: Wir sind die Aufrechten"
All das interessiert die Studentenbewegung in Frankfurt am Main im Sommer 1969 nicht.
"Ich glaube, das ist ja das Schreckliche an dieser ganzen Aktion", sagt Daniel Cohn-Bendit. "Man hat sich nicht dafür interessiert. Das ist ja dieses Plakative. Man war ja im Bewusstsein, das hat Gerd Koenen ganz schön auch in seinem Buch über den Antisemitismus und die Linken entwickelt, man war ja überzeugt: Wir sind die Aufrechten, die radikalen Antifaschisten und damit muss man sich gar keine Fragen stellen. Sondern wir sind das Gute, das Richtige. Wir wollen die proletarische Revolution, und die anderen sind unsere Gegner. Haben sie überhaupt nicht nachgedacht? Woher kommt zum Beispiel der Botschafter? Wobei es ist ja egal ist, ob er jetzt aus dem polnischen Ghetto kommt oder, sagen wir, aus Nordafrika gekommen wäre. Aber das hat die Leute nicht interessiert. Ja, das ist das Schlimme. Das heißt, man forderte ein historisches Bewusstsein ein und bewies mit solchen Aktionen und anderen, dass man überhaupt keines hat."
Für den palästinensischen Studenten Abdallah Frangi, war Asher Ben-Natan vor allem ein harter Mann aus dem israelischen Militär gewesen, der in der Palästina-Frage ganz weit auf der anderen Seite steht. Frangi ist am 9. Juni 1969 in den Hörsaal gekommen, um das deutlich zu machen.
Die Studierenden fordern irgendwann, dass Abdallah Frangi als Vertreter des palästinensischen Volkes nach vorne kommen und das Wort anstatt des israelischen Botschafters ergreifen soll. Die Menge packt Frangi, hebt ihn über die Köpfe und schiebt ihn mit vielen Händen in der Höhe schwebend nach vorne Richtung Podium, auf dem immer noch der israelische Botschafter und Dan Diner sitzen.
"Man hat mich getragen", erinnert sich Frangi, "und ich stand neben Asher Ben-Nathan. Ich habe dann gesagt, Sie sind nicht berechtigt, über Palästina zu reden, Sie sind Vertreter eines Staats, der Palästina geraubt hat."
"Ein entschiedener Vertreter der Palästinenser"
"Abdallah Frangi - man konnte mit ihm diskutieren", sagt Daniel Cohn-Bendit. "Er war kein fanatischer, aber er war ein entschiedener Vertreter der Palästinenser. Sein Werdegang: Die Palästinenser haben ja anfangs den Staat Israel abgelehnt. Dann gab es einen langen Entwicklungsprozess von der Fatah, auch von Arafat, hin zu Anerkennung des Staates Israel. Und dann die zwei Zwei-Staaten-Lösung anpeilen."
Abdallah Frangi wurde spätestens im Laufe der 1990er-Jahre zu einem Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung. Doch zwischen Hamas auf der einen Seite sowie Netanjahu und Trump auf der anderen sieht er zurzeit wenig Spielraum für die Realisierung dieses Konzeptes.
"Eine völlige Verschiebung der Horizonte"
Für den Politologen und 68er-Forscher Wolfgang Kraushaar war der Eklat mit dem israelischen Botschafter Ben-Nathan 1969 der Auftakt einer ganzen Reihe "antizionistischer und antisemitischer Vorfälle" in der radikalen Linken.
"Das heißt, damit war eine völlige Verschiebung der Horizonte verknüpft. Man ging davon aus, dass auch der Vietnamkrieg nicht mehr der entscheidende Konflikt sein würde, sondern in der Zukunft der 70er-Jahre dann der Nahostkonflikt."
So rekonstruiert Kraushaar in einem seiner Bücher einen versuchten Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in West-Berlin am 9. November 1969 – ein gescheiterter Attentatsversuch aus der linksradikalen West-Berliner Szene. Delegationen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes reisten ab Ende der 60er-Jahre in den Nahen Osten und suchten die Nähe zu militanten Palästinensern, so Kraushaar:
"Und vor allen Dingen unter den Vorzeichen dessen, dass man die Palästinenser als eine Befreiungsbewegung meinte wahrnehmen zu können und es als legitim erschien, sie in der Rolle von Guerilla-Organisationen auch zu fassen und sie insofern gleichzusetzen mit anderen Guerilla-Organisationen oder bewaffneten Gruppierungen der Dritten Welt."
1976 beteiligten sich westdeutsche Terroristen an einer Flugzeugentführung der PLO nach Entebbe, bei der die Flugzeuginsassen in Juden und Nichtjuden aufgeteilt wurden.
Warnung vor unpassenden Gleichsetzungen
Schon 1968 gab es jedoch aber auch Stimmen in der deutschen Linken, die davor warnten, postkolonialistische Befreiungsbewegungen etwa in Südamerika oder Afrika mit der PLO gleichzusetzen und dabei die Erfahrung des Holocaust auszublenden.
Zarin Aschrafi erinnert etwa an die "Gemeinsame Erklärung von 20 Vertretern der deutschen Linken zum Nah-Ost-Konflikt". Darin warnte eine Gruppe um den Berliner Philosophen Michael Landmann vor einer "unheilvollen Übertragung eines gängigen Denkschemas" auf die Situation im Nahen Osten. Das erinnere zumindest punktuell an aktuelle Debatten, so Zarin Aschrafi vom Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow.
Etwa wenn das heutige Israel mit Südafrika während der Apartheid verglichen werde, unter anderem durch den Philosophen Achille Mbembe. 1968 warf die Gruppe um Michael Landmann der israelfeindlichen Fraktion der "Neuen Linken" in Deutschland vor, bei ihrer Verurteilung Israels den Holocaust und seine Folgen - die verstärkten Fluchtbewegungen nach Palästina - nicht zu berücksichtigen, so die Historikerin Zarin Aschrafi.
"Sie hatten natürlich recht", sagt sie. "Denn wenn die Deutung von Nationalitätenkonflikten durch Überstülpung von Konzepten wie Imperialismus oder Kolonialismus – in aktuellen Debatten ist auch die Rede von Apartheid – geschieht, dann entledigt man sich historischer Differenzierungen."
"Die Verdammten dieser Erde" – ein Text mit Nachwirkung
Wie heute für den Philosophen Achille Mbembe war auch für die Studentenbewegung gerade in ihrer Auflösungsphase Ende der 60er-Jahre ein Text besonders wichtig: das 1966 im Suhrkamp-Verlag erstmals in deutscher Sprache erschienene Buch "Die Verdammten dieser Erde" von Frantz Fanon, einem ehemaligen Kämpfer der algerischen Befreiungsbewegung FLN. Mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre.
Daran erinnert Wolfgang Kraushaar: "Das bedeutete, dass man sich einließ auf einen Text, der hoch philosophisch einerseits war und andererseits aber auch unglaublich blutrünstig. Man konnte sehen, wie Sartre den Antikolonialismus wirklich geradezu feierte, und das wurde in der entscheidenden Phase zu Beginn der Studentenbewegung - der Westberliner zunächst und dann der bundesdeutschen - aufgenommen und wurde selber dann verbreitet. Man hat sich sehr stark mit dieser Rolle identifiziert, dass es darauf ankommen würde, den Kolonialismus zu schlagen und zu besiegen und das wurde übertragen dann auf Israel."
Zumindest in Teilen der radikalen neuen Linken war die Israelfeindschaft Teil des Antikolonialismus, so Kraushaar. Mit Bezug zu Frantz Fanons Schrift argumentiere Achille Mbembe heute punktuell wieder ähnlich, so Daniel Cohn-Bendit.
"Vergleich mit Südafrika bringt einen nicht weiter"
"Mbembe - zum Beispiel, wenn er sagt: Israel ist schlimmer als Südafrika oder ist genauso wie Südafrika. Das ist falsch", sagt Cohn-Bendit. "Es ist falsch, weil die Araber in Israel wählen können. Wenn er gesagt hätte, es gibt eine Unterdrückung arabisch-israelischer Bürgerinnen. Es gibt eine Unterdrückung und Araber dürfen zwar wählen, aber die sozialen Möglichkeiten: die arabischen Städte sind im Vergleich zu den jüdischen-israelischen Städten natürlich sehr unterentwickelt. Das stimmt alles. Und wenn er sagt, dass die Besatzung im Westjordanland eine sehr kolonialistische Besatzung ist, das stimmt. Weil, die Macht hat nicht mal das Recht dort, sondern die Armee. Und so weiter. Das kann man alles sagen. Aber der Vergleich mit Südafrika bringt einen nicht weiter."
Den Nahostkonflikt mit politischen Begriffen wie etwa "Kolonialismus" oder eben Apartheid begreifen zu wollen – das klappt auch aus Sicht der Historikerin Zarin Aschrafi nicht: "Denn bei allen strukturellen Gemeinsamkeiten, die die Vertreter solcher Konzepte meinen entdecken zu können, übergehen sie im Falle der israelischen Staatsgründung häufig die Tatsache, dass sie in erster Linie eine Konsequenz aus dem Holocaust war und dass von dieser Erfahrung auch das Leben, Überleben und Wirken der Nachfolgegenerationen nicht unbeeinflusst blieb."
Auch für Abdallah Frangi, den heutigen Berater des Palästinenser-Präsidenten Abbas "für europäische Angelegenheiten", ist klar: "Wir haben immer bei jedem Vortrag der Palästinenser verurteilt, was Hitler und die Nazis gemacht haben - mit den Juden vor allem."
So klar haben das nach 1968/69 nicht alle in der westdeutschen neuen Linken gesagt. Und auch in der aktuellem Debatte um die Mbembe-Positionen zeigt sich: Die Bedeutung des Holocaust als historisch singuläres Ereignis mit den bis heute tragischen Auswirkungen auf die Geschichte Israels und Palästinas wird auch in der heutigen Linken nach wie vor vielfach nicht begriffen.