Antisemitismus

"Das tut sehr weh"

Von Jonathan Scheiner |
Der ungarische Pianist András Schiff zählt zu den besten weltweit. Doch in seiner Heimat tritt er nicht mehr auf. Seitdem er den Antisemitismus in Ungarn offen krisiert hat, wird er beschimpft und bedroht.
András Schiff kann sich scheinbar nur noch selbst übertreffen. Das gilt auch für seine aktuelle Einspielung von Beethovens Diabelli-Variationen, die soeben als Doppel-CD erschienen ist. Auf der ersten CD, eine Aufnahme, bei der Schiff auf einem Bechstein-Flügel von 1921 spielt. Und auf einer zweiten, das selbe Stück auf einem historischen Hammerflügel aus der Beethovenzeit. Es ist, wie es immer war: Als Schiff-Hörer hat man das größte Vergnügen mit der Qual der Wahl. Egal, ob er Bachs Wohltemperiertes Clavier, seine Goldberg-Variartionen oder Beethovens sämtliche 32 Klaviersonaten spielt. Dieser 1953 in Budapest geborene Musiker gilt anerkanntermaßen als einer der größten Pianisten weltweit.
Doch Schiff ist nicht nur ein brillianter Musiker, sondern er ist ein Mann, der sich einmischt. Als er 2011 in einem offenen Brief in der Washington Post fragte, ob sein Heimatland Ungarn angesichts der Menschenrechtslage überhaupt würdig sei, die EU-Ratpräsidentschaft anzutreten, brach ein Sturm der Entrüstung los. Schiff hatte damit offensichtlich einen wunden Punkt getroffen.
"Also da wurde ich wirklich bedroht: Wenn ich wieder nach Ungarn komme, dann werden sie mir beide Hände abhacken. Nicht, dass ich davor besonders Angst habe, aber es ist nicht lustig für einen Pianisten. Das Ravel-„Konzert für linke Hand“ spiele ich sowieso nicht. Wirklich nicht aus Angst habe ich die Konsequenzen gezogen. Und das ist keine leichte Entscheidung. Das tut sehr weh."
Offene Hasstiraden
Als viel reisender Weltstar, der seinen Wohnsitz seit längerem nicht in Ungarn, sondern im schönen Florenz hat, scheint Schiffs freiwilliges Exil verkraftbar. Dennoch ist Schiff von der Entwicklung in Ungarn empört, weil sich in anonyme Internethetze offene Hasstiraden gemischt haben. Ein Busen- und Parteifreund von Viktor Orbáns Regierungspartei Fidesz hat in einer der größten Tageszeitungen Ungarn lauthals bedauert, dass von diesen "Cohns" in den Zeiten des "Weißen Terrors" nicht noch mehr umgebracht wurden, womit er neben Schiff auch den Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit und den englischen Journalisten Nick Cohen meinte. Es ist unüberhörbar, dass dort auf der antisemitischen Klaviatur geklimpert wurde.
"Meine Mutter ist gestorben vor ein paar Jahren. Sie war fast 95 Jahre alt. Würde sie heute noch leben, dann würde ich vielleicht anders handeln. Ich weiß von meiner Mutter – sie hat ja überlebt in Holocaust mit der ganzen Familie - sie hat in dieser Stimmung mit Orban und seiner Partei sehr gelitten... Das ist eine sehr schwierige Sache in Ungarn. Das hat nicht nur mit Fidesz und Orban zu tun. Das hat mit Frustrationen, mit Ressentiments, mit Trianon, mit verlorenem Krieg, mit verlorenen Territorien zu tun. Also ich sehe das sehr negativ und sehr pessimistisch. Es tut mir leid."
Schiff: "Die Ungarn sind ein antisemitisches Volk"
Antisemitismus ist keine Randerscheinung in Ungarn, genauso wenig wie das weit verbreitete Misstrauen gegenüber allem Fremden. Auch die Roma werden gerne mal als "Tiere" diffamiert. Umso erstaunlicher, dass die Reaktionen auf die Entwicklung in Ungarn seitens der EU bislang eher handzahm ausgefallen sind. Vielleicht liegt es daran, dass die Fidesz-Partei immerhin von zwei Drittel der Ungarn gewählt wurde. Eine Änderung der Lage ist deshalb nicht in Sicht. Es scheint vielmehr so, als habe der Antisemitismus in Ungarn ein lange Tradition.
Schiff: "Ich persönlich habe Antisemitismus direkt nicht gespürt, also gespürt ja, aber ich wurde nicht verfolgt oder attackiert, aber es war immer da, subkutan im Kommunismus, das war tabu, man redete nicht darüber. Das was jetzt passiert ist in den letzten drei Jahren, das ist ja nichts Neues: Die Ungarn sind ein antisemitisches Volk. Wie im alten Wiener Witz: Wer ist ein Antisemit? Der die Juden mehr als notwendig hasst. Für mich ist das mehr als notwendig."
So lange András Schiff seinen feinen Humor nicht verliert, scheint die Lage nicht aussichtslos. Zwar suchen viele ungarische Künstler und Intellektuelle inzwischen das Weite, aber sie nutzen ihre Stimme auch, um sich zu empören. Dazu gehört auch András Schiff. Und diesem Mann sollte man unbedingt Gehör schenken – egal ob er protestiert oder nur: Klavier spielt.
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