Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland stark angestiegen. Die deutsche Kulturszene stolpert von einem Antisemitismus-Skandal in den nächsten. In Berlin sollte eine Antidiskriminierungsklausel verhindern, dass aus öffentlichen Mitteln antisemitische Kulturprojekte gefördert werden, doch kurz nach der Einführung wurde sie wegen juristischer Bedenken zurückgezogen.
Deutschland ringt auf allen Ebenen um den richtigen Umgang mit Antisemitismus. Dabei führt insbesondere die Frage, was überhaupt antisemitisch ist, zu Diskussionen: Denn es gibt verschiedene Definitionen von Antisemitismus.
Antisemitismus hat mehrere Ausprägungen. Primärer oder "klassischer" Antisemitismus beinhaltet Vorurteile, Ressentiments, Verschwörungserzählungen, Hass und Gewalt gegen jüdische Menschen. Sekundärer Antisemitismus relativiert oder leugnet den Holocaust. Eine weitere Ausprägung ist der israelbezogene Antisemitismus, bei dem Israel auf Grundlage antisemitischer Vorurteile kritisiert wird.
Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.
Die Definition liefert zum besseren Verständnis elf Beispiele für Antisemitismus, darunter die Holocaustleugnung, die Verschwörungserzählung, dass Jüdinnen und Juden weltweit Medien, Politik und Wirtschaft kontrollieren, oder Vergleiche der israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten. Die deutsche Bundesregierung hat die IHRA-Definition noch um folgenden Satz erweitert:
Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.
Der IHRA-Definition gegenüber steht die
Jerusalem Declaration (JDA). Sie wurde von einem Team aus überwiegend jüdischen Fachleuten erarbeitet und 2021 "als Alternative zur IHRA-Definition" veröffentlicht. Mehr als 200 internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Antisemitismusforschung und verwandten Disziplinen haben sie unterzeichnet:
Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).
Das weniger bekannte
Nexus Document wurde von US-Forschenden am Bard Center for the Study of Hate verfasst und ebenfalls 2021 publiziert. Es liefert eine weitere Definition und Beispiele für antisemitische und nicht-antisemitische Aussagen und Handlungen:
Antisemitismus besteht aus antijüdischen Überzeugungen, Einstellungen, Handlungen oder systemischen Bedingungen. Er umfasst negative Überzeugungen und Gefühle gegenüber Juden, feindseliges Verhalten gegenüber Juden (weil sie Juden sind) und Bedingungen, die Juden diskriminieren und ihre Fähigkeit zur gleichberechtigten Teilhabe am politischen, religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen oder sozialen Leben erheblich beeinträchtigen.
Bestimmte Formen der Kritik am jüdischen Staat Israel werden je nach Definition als legitim oder als antisemitisch gewertet: Die IHRA-Definition schließt die kritische Auseinandersetzung mit der israelischen Regierungspolitik zwar nicht gänzlich aus, gibt ihr aber weniger Raum als die JDA.
So wie die IHRA-Definition an elf Beispiele geknüpft ist, so wird auch die JDA von 15 Leitlinien flankiert. Viele Punkte behandeln den Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina. Der Vergleich der israelischen Politik mit historischen Beispielen einschließlich Siedlerkolonialismus oder Apartheid ist laut JDA nicht per se antisemitisch, auch Boykottaufrufe oder Sanktionen gegen Israel seien das per se nicht.
In diesen Punkten unterscheidet sich die JDA von der IHRA-Definition. Im Gegensatz zur IHRA-Definition geht die JDA auch explizit auf den Zionismus ein, eine politische Bewegung, die ursprünglich das Ziel hatte, einen jüdischen Staat zu gründen. Die JDA definiert Kritik am Zionismus nicht zwingend als antisemitisch.
Das Nexus Document listet 13 Beispiele auf, die verdeutlichen, was antisemitisch sei und was nicht. Es stuft, im Gegensatz zur IHRA-Definition und ähnlich der JDA, die Ablehnung des Zionismus oder Kritik am Staat Israel nicht per se als antisemitisch ein.
Die IHRA-Definition ist die populärste. Zahlreiche jüdische Organisationen und die israelische Regierung ziehen die IHRA-Definition allen anderen vor. Sie wird von mehr als 40 Staaten anerkannt. Die deutsche Bundesregierung und viele weitere europäische und südamerikanische Staaten sowie die USA nutzen ebenfalls die IHRA-Definition. Auch Südkorea und die Philippinen bekennen sich dazu.
Darüber hinaus berufen sich auch zahlreiche Institutionen weltweit – von Fußballvereinen bis zu Universitäten – auf die IHRA-Definition. Die USA begrüßen und würdigen zudem in ihrer nationalen Strategie gegen Antisemitismus zusätzlich auch das Nexus Document.
Kritiker wenden gegen die IHRA-Definition vor allem ein, dass sie Debatten über den Nahostkonflikt erschwere. Die IHRA-Definition habe „Irritationen ausgelöst und zu Kontroversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt“ hätten, weil sie „in wichtigen Punkten unklar“ sei, schreiben die Verfasser der JDA. Es bestehe „ein großer Bedarf an Klarheit über die Grenzen legitimer politischer Äußerungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina“.
Menschenrechtsorganisationen, darunter Human Rights Watch, erklärten in einem offenen Brief an UN-Generalsekretär António Guterres, die IHRA-Definition „werde missbraucht, um Kritik an der Politik der israelischen Regierung und/oder das Eintreten für die Rechte der Palästinenser*innen fälschlicherweise als antisemitisch zu bezeichnen“.
Der israelische Historiker und Antisemitismusforscher Moshe Zimmermann meint, dass es nicht antisemitisch sei, Israels Politik zu kritisieren. Der Antisemitismusvorwurf sei eine politische Taktik, um Kritiker einzuschüchtern. Ungerechtfertigte Vorwürfe führten dazu, dass die Öffentlichkeit verunsichert werde und Schwierigkeiten habe, echten Antisemitismus zu erkennen und zu bekämpfen.
Ein weiterer Kritikpunkt an der IHRA-Definition ist, dass sie dazu führen kann, dass jüdische Menschen, die sich kritisch zum Nahostkonflikt äußern, als Antisemiten bezeichnet werden. Ein Beispiel dafür ist die Ausladung der in Berlin lebenden jüdischen Künstlerin Candice Breitz. Die geplante Ausstellung der Südafrikanerin im Saarlandmuseum wurde Ende 2023 wegen ihrer Äußerungen zum Krieg in Nahost abgesagt.
Jüdische Organisationen, wie der Zentralrat der Juden oder das American Jewish Committee (AJC), verteidigen die IHRA-Definition. So erklärt das AJC, dass die Definition sehr wohl Kritik an Israel erlaube und kritisiert seinerseits die JDA, weil sie die Boykottaufrufe gegen Israel, wie etwa jene der BDS-Bewegung, nicht ausdrücklich verurteilt.
Darüber hinaus hätten, so der Vorwurf, an der JDA Anti-Israel-Aktivisten und Antisemiten mitgewirkt - namentlich wird der Jurist und UN-Sonderberichterstatter Richard A. Falk genannt. Das Nexus Document verkenne wiederum, dass Zionismus keine politische Bewegung sei, sondern ein 2000 Jahre alter Ausdruck der Sehnsucht des jüdischen Volkes nach einer Rückkehr in sein Heimatland.
Antizionismus lehnt den Zionismus ab. Der Zionismus war eine politische Bewegung, die die Gründung eines jüdischen Staats anstrebte. Seit der Staatsgründung Israels 1948 existiert ein solcher Staat, der jüdischen Menschen aus aller Welt Zuflucht bietet.
So nutzen unter anderem Rechtsextreme Antizionismus, um antisemitische Positionen zu verschleiern. Sie äußern Kritik am Staat Israel, zielen damit aber eigentlich auf Jüdinnen und Juden.
Antizionismus muss nicht zwingend antisemitisch sein. Ultraorthodoxe Juden sind keine Antisemiten, aber sie bezeichnen sich als Antizionisten. Sie lehnen den zionistischen Staat Israel aus religiösen Gründen ab, da aus ihrer Sicht nur Gott den Staat ausrufen darf.