Wer der Documenta und der Documenta in Kassel wohlwill, der unterlässt jetzt diesen Streit.
"Diese Debatte kommt zur Unzeit"
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„Dass die Documenta ins parteipolitische Getriebe gerät, ist ziemlich schlimm“, findet der ehemalige Kasseler Oberbürgermeister und Ex-Finanzminister Hans Eichel. Die Kontroverse schade dem Kunstfestival und ihrem Erfolg.
Der Skandal um ein Bild, das antisemitische Stereotype bedient, hat die Documenta in Kassel schwer erschüttert. Dennoch unterstreicht der frühere SPD-Politiker Hans Eichel: "Diese Documenta ist eine wunderbare Ausstellung." Die Arbeiten von etwa 1500 Künstlern sind zu sehen - so viele wie noch nie. Dies in einer Pandemie zu organisieren, ist für Eichel eine "unglaubliche Leistung". Eichel war von 1975 bis 1991 Oberbürgermeister von Kassel, wo die Documenta alle fünf Jahre stattfindet.
Trotz dieses Lobs ist für Eichel aber auch klar: Die "sehr ägerliche Bildsprache" eines mittlerweile abgehängten Banners sei nicht hinnehmbar. Sie erinnere ihn an die Bilder im "Stürmer", der Propaganda-Zeitung der Nationalsozialisten. Beim Künstlerkollektiv Taring Padi, das für die Aufhängung des Bildes verantwortlich zeichnet, sieht Eichel ansonsten aber keine Hinweise auf Antisemitismus.
Das Forum der Weltkunstgemeinde
Die Verantwortung für den Eklat sieht Eichel bei den Kuratoren des Festivals. "Das ist ja in der Documenta völlig eindeutig geregelt." Niemand rede der künstlerischen Leitung in die Auswahl der Künstler und der Kunstwerke hinein.
Das dürfe auch künftig nicht passieren. Nur so sei gewährleistet, dass die Documenta auch weiterhin als Forum der Weltkunstgemeinde bestehen kann. Die Documenta-Leitung wird durch eine internationale Kommision berufen. Diese Leitung müsse aber für die deutsche Situation sensibilisiert werden, sagt Eichel.
"Die künstlerischen Leiter sind immer für Meinungsfreiheit, immer für Kunstfreiheit, immer dafür, dass keine menschenfeindlichen Einstellungen in einer Ausstellung sichtbar werden."
Es müsse aber jedes Mal wieder klar werden, dass es eine besondere Sensibilität angesichts des schlimmen Verbrechens der Shoah geben müsse.
Die Diskussionen schaden der Documenta
Für die Documenta wünscht sich Eichel "einen schönen Sommer" und einen guten Beschluss. Die jetzige Debatte käme zur Unzeit. Für die aktuelle Kontroverse fände Eichel eine Nachbetrachtung nach Ende des Festivals passender.
"Dass die Documenta ins parteipolitische Getriebe gerät, ist ziemlich schlimm." Das schade der Documenta, schade ihrem Erfolg, schade ihren Besucherzahlen.
Den Fortbestand des Festivals sieht Eichel jedoch nicht in Gefahr: Abgesehen von den Berliner Philharmonikern spiele nichts aus Deutschland in der Weltkultur so eine große Rolle. Umso wichtiger ist für Eichel, dass die Politik sorgsam damit umgehe.
Das Problem ist das Konzept
Der Soziologe und Publizist Harald Welzer meint dagegen, das Konzept der Documenta sei veraltet und der Skandal schon weit im Vorfeld angelegt gewesen. "Eine vernünftige Documenta-Leitung hätte sich des Problems bewusst sein müssen und gesagt: 'Lasst uns darüber diskutieren, ob es im Jahr 2022 noch sinnvoll ist, eine Weltkunstausstellung zu machen'",
so Welzer im Interview
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Stattdessen habe sich die Leitung für den bequemen Weg entschieden und sei der Kontroverse aus dem Weg gegangen, indem sie ein Kuratorenteam aus dem "globalen Süden" eingesetzt habe, sagt Welzer.
Anders als Hans Eichel ist Welzer nicht der Ansicht, dass eine Nachbetrachtung nach Ende des Festivals sinnvoll sei. Er sei ein großer Anhänger der "first five minutes rule", sagt Welzer: "Wenn Dinge in den ersten fünf Minuten gut laufen, dann bleiben sie gut. Wenn sie in den ersten fünf Minuten schlecht laufen, dann bleiben sie schlecht.
Diese Documenta werde niemals wieder heilbar sein, meint Welzer: "Da die Documenta etwas ist, was man beenden kann, könnte man daran mal ausprobieren, wie es funktioniert, das Aufhören."
(ros)