Unruhe im einst sicheren Hafen
Lange Zeit galten die USA als sicherer Hafen für Juden in der Diaspora. In weiten Kreisen der US-Gesellschaft war Antisemitismus uneingeschränkt tabu. Doch das ändert sich mittlerweile – und viele geben Präsident Donald Trump eine Mitschuld.
Sabbatfeier in einer Synagoge der Upper West Side von Manhattan. Rund hundert jüdische Gläubige der Romemu-Gemeinde sitzen auf Holzbänken. Eine Frau mit langem, grauem Haar trägt einen weißen Tallit, ihren rituellen Gebetsmantel, auf den sie einen Aufruf zum politischen Widerstand genäht hat. Elisabeth Langer ist seit ihrer Jugend politisch aktiv. Damals hat sie gegen den Vietnam-Krieg demonstriert. Dann war sie 35 Jahre lang Rechtsanwältin in New York. Heute bezeichnet sie sich als Künstlerin. Sie malt und verbindet ihre Kunst mit politischem Protest gegen Präsident Trump
Langer: "Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich Angst, weil ich Jüdin bin. Ich habe den Eindruck, wir leben in einer Zeit, die vergleichbar ist mit der Zeit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland. Es geschehen wieder so furchtbare Dinge. In unserer Nachbarschaft werden Hakenkreuze auf Wände gesprüht. Es hat Massaker an Juden gegeben. Unsere Synagogen und unsere Schulen brauchen immer mehr Sicherheitspersonal. Es gibt so viel Hass. Und der beginnt ganz oben, bei den mächtigsten Personen unseres Landes. Das ist gefährlich."
Kippa als Symbol der Wahrhaftigkeit
Neben Elisabeth sitzt ihr Mann Richard Chused, der seit 50 Jahre an der New York Law School lehrt. Zuletzt ist sein Job schwieriger geworden, sagt er. Wie soll man es den Studierenden erklären, wenn der Präsident der Nation ein ums andere Mal offensichtlich lügt? Professor Chused hat sich entschieden, ein Zeichen zu setzen.
"Normalerweise trage ich keine Kippa. Aber jetzt trage ich ständig eine, als Symbol der Wahrhaftigkeit. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich so ein Gefühl wie jetzt, dass es nicht mehr angemessen ist, mein Judentum zu verbergen."
Andere Juden hingegen argumentieren, gerade jetzt sei es geboten, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr als jüdisch zu erkennen zu geben.
Aus Vorsicht ohne Kette mit David-Stern unterwegs
Die 20-jährige Studentin Tova Frank hat eine Entscheidung getroffen, auf die sie nicht stolz ist.
"Wenn ich zu meiner Arbeit am Times Square gehe, trage ich nicht mehr meine Kette mit dem Davidstern, weil die Atmosphäre derzeit so angespannt ist. Aber die Entscheidung hat mich auch traurig gemacht. Es hat sich angefühlt, als hätten mir diese Leute etwas genommen. Doch in Bezug auf die persönliche Sicherheit muss man einfach praktisch denken. Zurzeit will ich nicht öffentlich als Jüdin erkannt werden."
Tova verkauft Theaterkarten am Broadway. Täglich laufen viele tausend Menschen verschiedenster Herkunft an ihr vorüber. Früher hat ihr das nichts ausgemacht.
"Als meine Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg aus Osteuropa hierher gekommen sind, nannten sie die USA das 'golden amaden', das ist Jiddisch und bedeutet 'goldenes Land': ein sicherer Hafen der religiösen Freiheit. So ist es immer noch. Jüdische Menschen haben hier so viele Möglichkeiten, offen zu leben, wie nirgends sonst. Sie können sich in die Arbeitswelt einbringen und in alle Ebenen der Regierung. Anderswo sind wir in der Geschichte des Judentums immer davon abgehalten worden, bestimmte Arbeiten oder Regierungsämter zu übernehmen."
Viele amerikanische Juden sind von Trumps Rhetorik entsetzt
In New York leben weit über eine Millionen Juden, mehr als in irgendeiner anderen Stadt der Welt. Auch Donald Trump stammt aus der Metropole. Umso hitziger wird dort über seine Politik gestritten.
Julie Wiener: "Die Mehrheit der US-amerikanischen Juden unterstützt die Demokratische Partei. Sie sind entsetzt über buchstäblich alle Aspekte der Trump-Regierung. Viele Leute sagen, er verhalte sich faschistisch. Auf jeden Fall hat seine Rhetorik Züge des Faschismus: Seine Feindseligkeit gegenüber der Presse, seine Verteufelung von Minderheiten und Einwanderern, sein respektloses Benehmen gegenüber unseren Freunden und Alliierten im Ausland."
Julie Wiener ist die Pressesprecherin von TRUAH, einer Organisation von und für Rabbiner aller jüdischen Strömungen. Die angespannte Stimmung führt auch zu Spaltungen innerhalb der jüdischen Gemeinden. Unterstützerinnen und Unterstützer von Trump fühlen sich zunehmend an den Rand gedrängt, sagt eine Gesprächspartnerin, die ihren Namen nicht im Radio nennen möchte:
"Leider ist es hier so, dass offene Kritik nicht möglich ist. Man darf nicht das gängige Vorurteil kritisieren, das da lautet: Alles, was Obama getan hat, war gut und wunderbar - und alles, was Trump tut, ist schlecht."
Kinder von Holocaust-Überlebenden sehen die Welt anders
Die pensionierte Psychoanalytikerin ist als Kind aus Deutschland geflohen. Später hat sie Holocaust-Überlebende behandelt. Sie hält die verbreitete kosmopolitische und liberale Haltung vieler junger Juden in den USA für naiv:
"Mein Vater war das jüngste von acht Kindern. Die Faschisten haben alle seine Geschwister umgebracht. Es gibt einen Unterschied, wie Kinder von Überlebenden und wie Kindern von jüdischen US-Amerikanern, die hier aufgewachsen sind, die Welt sehen."
Die wichtigste politische Frage für viele US-amerikanische Juden ist, wie sich ihre Regierung gegenüber Israel verhält. Da hat sich Trump eindeutig positioniert. Er steht eng an der Seite der konservativen israelischen Regierung und scheint sich wenig dafür zu interessieren, was die Palästinenser denken. Damit kontrastiert er die diplomatischen Bemühungen seines Vorgängers Obama. Die Psychoanalytikerin sagt:
"Ich bin dankbar für Trumps Außenpolitik. Vorher war die jüdische Gemeinde in den USA bereit, die Interessen Israels über Bord zu werfen. Viele haben Obamas Vertrag mit dem Iran unterstützt. Das war ein Desaster. Die Leute erkennen nicht, wie gefährlich das ist. Ich bin in Europa aufgewachsen. Meine Familie war deutsch-jüdisch. Mein Großvater war in der deutschen Wehrmacht. Als ich noch klein war, hat er mir erzählt, dass die Deutschen Hitlers Buch 'Mein Kampf' nicht gelesen haben. Sie hätten es lesen können. Und jetzt sehe ich, was im Koran steht. Da wird beschrieben, was die Muslime mit den Juden machen wollen. Und das ist gar nicht schön."
Karikaturen mit KZ-Kleidung oder Hakenkreuzen
Doch mehr Juden in den USA fürchten sich vor antisemitischen Anschlägen von rechten Extremisten als vor Islamisten. Zwar hat die Anti-Diffamierungs-Liga festgestellt, dass Judenhass in der US-Gesellschaft im Laufe der vergangenen Jahrzehnte kontinuierlich abgenommen hat, doch neuerdings tauchen immer häufiger geschmacklose Fotocollagen im Internet auf. Jüdische Journalisten werden in Konzentrationslager-Häftlingskleidung dargestellt oder die Köpfe prominenter Juden brennen in Hochöfen mit Hakenkreuzen auf den Deckeln. Solche Bilder erschrecken viele Juden.
Sieben Monate nach der Amtseinführung von Trump kam es zu dem größten rechtsextremistischen Aufmarsch in den USA seit Jahrzehnten. Eingeladen hatten unter anderem Gruppen von Neonazis, Ku-Klux-Klan Anhängern und bewaffnete rechte Milizen. In Charlottesville, Virginia, marschierten Demonstranten unter dem Motto "Unite the right!" - "Vereint die Rechte". In dieser Machtdemonstration neofaschistischer Horden sehen viele Juden einen Wendepunkt für jüdisches Leben in den USA. So auch Julie Wiener.
"Es gibt ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Antisemitismus ein zentraler Bestandteil des weißen Nationalismus ist. Die Rechten behaupten, Juden würden bewusst versuchen, die Kultur der Weißen zu unterwandern. Sie verbreiten diese Konspirationstheorie, Juden würden im Verborgenen die Zerstörung des Landes betreiben, indem sie immer mehr Migranten hierher holen. Ein solcher Gedankengang hat den Mann in Pittsburgh dazu motiviert, auf Juden zu schießen. Er war überzeugt, Juden seien verantwortlich für eine Bedrohung durch Migration."
In der Stadt Pittsburgh stürmte im Oktober vergangenen Jahres ein bewaffneter Mann in eine Synagoge, eröffnete das Feuer und brüllte: "Tod den Juden!" Elf Menschen starben. Es war der tödlichste Angriff auf Juden in der Geschichte der USA.
Doppelt so viele antisemitische Vorfälle an Universitäten
Zum Ende der Sabbatfeier der Romemu-Gemeinde spricht Rabbi David Ingber ein Gebet. Er hofft auf bessere Zeiten.
Ingber: "Könnten wir doch in einer Welt leben, in der Menschen ihre Religion lieben - nicht weil sie sie für die einzig wahre halten, sondern weil sie wunderschön ist. Das wäre eine andere, eine bessere Welt."
In den USA hat sich seit 2016 die Zahl der angezeigten antisemitischen Vorfälle an Universitäten verdoppelt. Trotzdem macht es dem Jura-Professor Richard Chused Hoffnung, wenn er die aktuelle Situation mit den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht:
"Ich denke, ein großer Unterschied zwischen heute und den 40er-, 50er-Jahren in den USA ist, dass hier damals viele Juden gesagt haben: 'Jetzt nach dem Holocaust sollten wir uns bemühen, unsichtbar zu werden.' Diesmal ist die Reaktion der jüdischen Bevölkerung eine andere. Die meisten sind bereit zu sagen: 'Ich bin jüdisch. Ich bin stolz darauf. So bin ich halt. Ihr müsst das akzeptieren.'"