Was plante Stalin mit den sowjetischen Juden?
Vor 65 Jahren wurden die sowjetischen Juden in Todesangst versetzt, denn der KGB "enttarnte" ein angebliches Komplott jüdischer Ärzte. Die Mediziner hätten die Sowjetführung ausschalten wollen, so Stalins Propaganda. Die Folge war eine landesweite antisemitische Hetzkampagne.
13. Januar 1953. Das sowjetische Staatsorgan "Prawda" verkündet in einem Leitartikel die Verhaftung von neun hochrangigen Medizinern, darunter sechs Juden. Die Überschrift lautet:
"Bösartige Spione und Mörder unter der Maske von Professoren-Ärzten"
Startschuss für eine landesweite antisemitische Kampagne unter dem Stichwort "Die Ärzteverschwörung".
"Diese terroristische Gruppe hatte zum Ziel, das Leben der Führer der Sowjetunion durch medizinische Sabotage zu verkürzen. Die Mehrheit der Terroristengruppe wurde vom amerikanischen Geheimdienst gekauft. Die Demaskierung einer Bande von Gift verabreichenden Ärzten stellt einen Schlag gegen die internationale jüdisch-zionistische Organisation dar."
Yakov Yakovlevich Etinger: "Es war meistens mitten in der Nacht. Um zehn Uhr ging das Licht aus und die Häftlinge waren kurz davor, ins Bett zu gehen. Dann kam der Wärter und sagte: Sie werden jetzt verhört."
Stundenlange nächtliche Verhöre
Yakov Yakovlevich Etinger ist der Sohn des berühmten Sowjet-Kardiologen Yakov Gilyarievich Etinger. Beide Juden sind bereits Ende 1950 als angebliche Staatsfeinde verhaftet und unter Druck gesetzt worden – ihre Geständnisse sollen Grundlage für die Inszenierung des Ärzte-Komplotts werden. Während der Vater im KGB-Gefängnis stirbt, überlebt der Geschichtsstudent den antijüdischen Terror. Jahrzehnte später legt er Zeugnis ab in einer ZDF-Dokumentation:
"Das Verhör dauerte bis fünf oder sechs Uhr morgens. Ich hatte mich gerade ins Bett gelegt, da ging es schon wieder los: Aufstehen! Ich habe unter extremem Schlafentzug gelitten."
Ab September 1952 werden in zwei Wellen insgesamt 37 Personen im Zusammenhang mit der "Ärzteverschwörung" festgenommen, verhört und gefoltert. Nikita Chruschtschow, Politbüromitglied und Stalins Nachfolger, bezeugt später, dass der Diktator die Verhöre persönlich überwacht und immer mehr Geständnisse verlangt hat. Vor allem vom Staatssicherheitsminister Semjon Ignatjew. Chruschtschow schreibt in seinen Erinnerungen:
"Stalin tobte vor Wut, schrie Ignatjew an und drohte ihm. Er verlangte, er solle die Ärzte in Ketten legen, zu Brei zerstampfen und zu Pulver zermalmen."
Dem Kampagnenstart durch die Prawda im Januar '53 folgt eine wochenlange antijüdische Hetze in allen Medien. Die Bevölkerung wird aufgebracht, so dass jüdische Nachbarn schief angesehen, gemieden und verflucht werden.
"Etwas brodelte im Land! Es fühlte sich an wie fünf Minuten vor dem Pogrom! Die Leute hatten Angst vor jüdischen Ärzten",
resümiert Gennady Kostyrchenko, ein profilierter russischer Historiker.
"Die Atmosphäre war wie in einem riesigen Irrenhaus."
1992: Journalist wirft Stalin geplanten Genozid vor
Nach Stalins Plan sollten die Ärzte für schuldig befunden und zum sofortigen Tod verurteilt werden. Sie sollten auf dem Roten Platz gehängt werden.
Der amerikanisch-israelische Journalist Louis Rapoport publizierte 1992, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in seinem Buch "Hammer, Sichel, Davidstern" Indizien und Zeugenaussagen für eine ungeheuerliche These: Dass Stalin eine ethnische Säuberung plante, eine groß angelegte Deportation von Juden. Durchgeführt vom MGB, dem Ministerium für Staatssicherheit. Rapoport schreibt:
"Dann sollte der Genozid in drei Stufen erfolgen: Zuerst würden alle sowjetischen Juden in Lager östlich des Urals transportiert. Im zweiten Schritt würden die Behörden jüdische Führer gegeneinander aufhetzen. Außerdem würde das MGB damit beginnen, die Elite in den Lagern umzubringen. Die dritte und letzte Etappe würde darin bestehen, 'den Rest loszuwerden'."
In der verängstigten sowjetisch-jüdischen Gemeinschaft des Jahres 1953 kursieren Gerüchte über anstehende Verhaftungswellen in Moskau, Leningrad, Kiew und Odessa – sowie über angeblich bereit stehende Baracken in Sibirien oder Kasachstan. Der einstige Häftling Yakov Yakovlevich Etinger hat 1970 von einem ehemaligen Politbüromitglied folgende Bestätigung erfahren:
"Stalin befahl offenbar im Februar 1953, tausende Viehwaggons außerhalb der großen sowjetischen Städte zu konzentrieren, um diese massive ethnische Säuberung zu erleichtern."
Plante Stalin, acht Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, tatsächlich eine Art Shoah für die rund zwei Millionen sowjetischen Juden? Oder zumindest eine Deportation – so wie er es zuvor mit den Wolgadeutschen, Krimtartaren und Tschetschenen getan hatte? Eine Frage, die die Fachwelt bis heute beschäftigt. Frank Grüner, Historiker an der Universität Heidelberg, kann keinen "harten" Beweis finden für einen groß angelegten Umsiedlungsplan für Juden:
"Mir ist jetzt kein Dokument bekannt, dass belastbar ist, um diese Deportationen anzunehmen."
Andere Experten gehen allerdings davon aus, dass – trotz fehlender Unterlagen – der geschichtliche Kontext für bestimmte Deportationspläne spricht. So glaubt der jüdische Historiker Dimitrij Belkin, der aus der Ukraine stammt und in Berlin lebt, dass nur Stalins plötzlicher Tod am 5. März 1953 Schlimmeres verhindert hat für die sowjetischen Juden:
"Eine Teildeportation, ein Teilzwang zum Verlassen, sagen wir, sowjetischen Großstädten, halte ich für nicht unrealistisch."
Chruschtschow: Stalin hat Juden zutiefst misstraut
Stalin: "Genossen! Der große Tag des Sieges über Deutschland ist gekommen."
Wer den Hintergrund der antisemitischen Kampagne vor 65 Jahren erhellen möchte, muss zurückgehen zum Mai 1945, als Stalin das Kriegsende verkündet.
Stalin: "Von der Roten Armee und den Truppen unserer Verbündeten auf die Knie gezwungen, hat sich das faschistische Deutschland für besiegt erklärt und bedingungslos kapituliert."
Das Ende des "Großen Vaterländischen Krieges" ist auch ein Ende vieler Freiheiten. Denn die kommunistische Partei der Sowjetunion hat zuvor den Nationalitäten des Landes – und auch den Juden – Zugeständnisse gemacht, um das Volk im Verteidigungskampf zu einen. Und auch, um von den USA Finanz- und Militärhilfe zu bekommen. Dafür ließ Stalin 1941/42 eigens das Jüdische Antifaschistische Komitee gründen. Doch nach dem Krieg, ab 1948, ist damit Schluss. Stalin betrachtet die Juden immer mehr als "wurzellose Kosmopoliten", die angeblich nicht loyal und zu gut vernetzt sind mit der westlichen Welt.
"In Stalins eigenem Hirn wuchs der Antisemitismus wie ein Tumor",
beobachtet damals Politbüromitglied Nikita Chruschtschow. Der spätere Staats- und Parteichef erwähnt in seinen Erinnerungen auch das Krim-Projekt - eine Idee für eine jüdische Republik auf Sowjet-Boden. Bereits 1928 war das sibirische Birobidshan als jüdisches Siedlungsgebiet ausgewiesen worden, doch nur wenige Juden ziehen in die unwirtliche Region. 1943, nach der Vertreibung der deutschen Wehrmacht von der Krim, reift nun der Plan für eine jüdische Republik am Schwarzen Meer. 1944 schickt das Jüdische Antifaschistische Komitee, unterstützt von hohen Parteifunktionären, ein Krim-Konzept an Stalin. Doch der Diktator, schreibt Chruschtschow, habe den Juden zutiefst misstraut:
"Sie versuchten, einen jüdischen Staat auf der Krim zu gründen, um die Krim von der Sowjetunion loszureissen und einen Vorposten des amerikanischen Imperialismus auf unserem Boden zu errichten, der eine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit der Sowjetunion darstellen werde. In dieser Richtung ließ Stalin seiner Einbildungskraft wild die Zügel schiessen. Er war von manischer Rachsucht besessen."
Stalins Rache, basierend auf einer Paranoia, hatte dramatische Auswirkungen: Am 13. Januar 1948, vor 70 Jahren, lässt Stalin den Vorsitzenden des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, den prominenten Schauspieler Solomon Michoels, ermorden. Chruschtschow gesteht:
"Offiziell wurde bekannt gegeben, Michoels sei vor einem Lastwagen gestürzt. In Wirklichkeit war er vor einen Lastwagen gestossen worden. Stalin hatte es getan, zumindest war es auf seine Anweisungen hin geschehen."
Wenige Monate später bekommt Stalins Judenhass neue Nahrung: Im Mai 1948 wird Israel gegründet. Anfangs unterstützt die Sowjetunion den jüdischen Staat, um die sozialistisch gesinnten Kibbuz-Gründer gegen die USA in Stellung zu bringen. So kommt im September jenen Jahres schließlich Golda Meir als israelische Botschafterin nach Moskau.
"Und sie geht als erste in die Synagoge, und Tausende – ich habe gehört die Zahl von zehn- bis fünfzehntausend - haben sie unterwegs begrüßt. Juden! Was eine unglaubliche Zahl ist. Denn Juden kamen ja kaum zusammen."
So der jüdische Historiker Dimitrij Belkin. Nach seiner Einschätzung konnte Stalin es nicht ertragen, dass nicht ihm applaudiert wurde:
"Man sagt auch, dass wahrscheinlich sein späterer Judenhass, also sein Antisemitismus, nicht zuletzt auch aus einem ganz banalen Neid sozusagen resultierte. Das war gefährlich."
Schauprozesse gegen "Agenten des Zionismus"
Nun geht es Schlag auf Schlag, Stalin nimmt die sowjetischen Juden noch stärker ins Visier. Im November 1948 wird das Jüdische Antifaschistische Komitee aufgelöst. Im Folgejahr startet eine Kampagne gegen jüdische Theaterkritiker. Massenentlassungen von jüdischen Lehrern, Journalisten, Künstlern, Wissenschaftlern, Ingenieuren und Offizieren folgen. Jüdische Kultureinrichtungen werden geschlossen. Im Frühjahr 1952 verurteilt ein Geheimgericht 105 Aktivisten des aufgelösten Komitees zu schweren Strafen, darunter zehn Vertreter zum Tod. Der Vorwurf lautet: Spionage für die USA. Die tödliche Welle erfasst den gesamten Ostblock.
"Angeklagter Rudolf Slansky, treten Sie vor das Mikrofon! Bekennen Sie sich der vier Straftaten für schuldig?/Ja./Erstens: der Spionage?/Ja./Des Hochverrats?/Ja./Der Sabotage?/Ja."
Ende 1952 wird in Prag 14 unliebsamen Kommunisten der Prozess gemacht. Die meisten von ihnen sind Juden - wie der Hauptangeklagte Rudolf Slansky. Er wird gehängt. Auch in Ungarn, Rumänien und der DDR werden Schauprozesse inszeniert gegen die "Agenten des Zionismus". Es ist eine Hoch-Zeit des Kalten Krieges. Die beiden Großmächte, die inzwischen über Atomwaffen verfügen, bekämpfen sich in Korea. Stalin argwöhnt, dass amerikanische Agenten sogar im Kreml ein- und ausgehen – jüdische Agenten. Seine Tochter ist mit einem Juden verheiratet und auch seine Leibärzte sind jüdisch.
Belkin: "Man muss auch wissen, dass die sowjetische Elite in Moskau extrem zentralistisch auch lebte. Viele Familien der politischen Führung wohnten da in zwei, drei guten Häusern irgendwo am Ufer des Flusses Moskau. Und wenn man zusammen isst sozusagen, und plötzlich einer Gruppe nicht vertraut und sagt: Die sind Familienmitglieder, aber irgendwie habe ich kein Vertrauen, dann ist es gefährlich. Und bei Stalin war das eindeutig so. Und deswegen ließ er auch sehr viele Ehefrauen vor allem seiner Politbüromitglieder, die jüdisch waren, auch verhaften, das muss man auch wissen."
Als im Januar 1953 die Verleumdungskampagne gegen die jüdischen Kremlärzte startet, folgt weltweiter Protest, auch radikaler: Am 9. Februar explodiert auf dem Gelände der sowjetischen Botschaft in Tel Aviv eine Bombe, und zwei Tage später bricht die UdSSR ihre diplomatischen Beziehungen mit dem jungen jüdischen Staat ab. Doch dann stirbt der Diktator, unerwartet, am 5. März. Die verhafteten Mediziner werden sofort, am Purimfest 1953, wieder frei gelassen und später rehabilitiert. Als angebliche Hauptschuldige des inszenierten Ärzte-Komplotts lässt die Sowjetjustiz den Staatssicherheitsminister und seinen Vize hinrichten. Was wäre mit den sowjetischen Juden geschehen, wenn der paranoide Staats- und Parteichef weiter gelebt hätte? Diese Frage könne niemand beantworten, bilanziert der Heidelberger Historiker Frank Grüner. Weil kein Plan für die Zeit nach dem Schauprozess gefunden worden sei oder gar ein Plan für eine Deportation:
"Ich habe bei meinen eigenen Archivrecherchen, sowohl in den Unterlagen des Zentralkomitees, Politbüros, der Unterlagen Stalins, nach solchen Dokumenten gesucht, ich habe sie nicht gefunden. Tatsächlich kann man schon fragen, ob die möglicherweise aussortiert wurden, das ist lange vermutet worden. Aber meines Erachtens bewegen wir uns dort auf relativ spekulativem Grund."
Zeitzeuge berichtet von Gespräch über Deportationsfrage
Andere Wissenschaftler verweisen hingegen darauf, dass Stalin auch bei der Deportation der Tschetschenen 1944 keinen schriftlichen Befehl erteilt habe - eine halbe Million Kaukasier sei ohne unterschriebenes Dokument umgesiedelt und teilweise umgebracht worden. Zudem gebe es zahlreiche Zeugenaussagen – sogar von hohen Parteivertretern. So soll ZK-Funktionär Poljakow Folgendes berichtet haben:
"Ende der 40er-, Anfang der 50er-Jahre wurde ein Beschluss über die vollständige Deportation der Juden gefasst. Die Durchführung dieser Aktion wurde einer neugebildeten Kommission anvertraut, die Stalin direkt unterstellt war."
Mit diesen Worten gibt 1992 der Journalist Sinowi Schejnis den Funktionärsbericht wieder:
"Gleichzeitig wurden im ganzen Land Listen aller Personen jüdischer Herkunft angelegt. Die Aktion sollte in der zweiten Februarhälfte durchgeführt werden. Es kam zu Verzögerungen."
Der amerikanisch-israelische Journalist Louis Rapoport beschreibt gar eine Auseinandersetzung Stalins mit anderen Politbüromitgliedern über die Deportationsfrage. Rapoports Quelle, ein enger Mitarbeiter des Parteichefs, berichtet, wie Stalin seinen Getreuen den antijüdischen Plan präsentiert, aber auf unerwarteten Widerstand stößt. Der heftige Protest habe schließlich zu seinem Ableben geführt, so der Zeitzeuge.
"Stalin erregte sich derart, dass er auf dem Fußboden zusammenbrach - bei dieser Gelegenheit und an diesem Ort hatte er den tödlichen Schlaganfall erlitten."
Andere Quellen datieren den Schlaganfall erst auf den nächsten Tag. Journalist Rapoport räumt ein, dass dieses Drama nach Stalins Tod absichtlich verbreitet worden sein könnte.
"Von dieser Geschichte gibt es mehrere Versionen, die 1957 vermutlich deshalb ausgestreut wurden, um zu beweisen, dass die sowjetische Regierung nicht des Antisemitismus schuldig sei."
Historiker stehen vor einem Rätsel
Frank Grüner geht noch weiter: Als Wissenschaftler lässt er Berichte vom Hörensagen grundsätzlich nicht gelten als historischen Beweis. Gegen die Deportationsthese spreche auch, dass Stalin grundsätzlich rational und mit Rücksicht auf die internationale Lage gehandelt habe:
"Der pure Anschein, dass hier in der Sowjetunion eine antijüdische, eine antisemitische Politik gefahren werden könnte, die an die Verbrechen des Holocaust, der Shoah erinnert, hätte mit Sicherheit blankes Entsetzen unter vielen Menschen, auch im sowjetischen Lager, hervorgerufen - von der westlichen Welt mal ganz abgesehen."
Der jüdische Historiker Dimtrij Belkin glaubt hingegen, dass Stalin zumindest eine Verbannung von Juden aus den sowjetischen Millionen-Städten in Betracht gezogen hat. Ähnliches habe es bereits zu Zarenzeiten gegeben - und auch der Sowjet-Herrscher könnte dies erwogen haben.
"Denn er war auch ein Kartenspieler – und ein Kartenspieler oder Schachspieler plant immer zwei, drei Variationen. Kann dann sein, dass eine Option war: Wir machen jetzt so eine Probe und schauen, wie weit wir gehen können."
Verhaftungen, Folter und eine landesweite antijüdische Kampagne: Was hatte Stalin auf dem Höhepunkt des kalten Krieges mit den Juden seines Landes vor? Selbst 65 Jahre danach ist nicht klar, was der sogenannten Ärzteverschwörung gefolgt wäre, räumt der Heidelberger Wissenschaftler Frank Grüner ein:
"Das gibt uns bis heute noch manche Rätsel auf."