Das Gift in unserer Gesellschaft
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Warum ist der Antisemitismus in Deutschland so erstarkt? Leider sei das nicht nur ein deutsches Phänomen - es gebe derzeit wieder "so etwas wie ein internationales Klima" für Judenfeindlichkeit, sagt der Literaturwissenschaftler Werner Nell.
Shanli Anwar: Über einen Monat ist der versuchte Anschlag auf die Synagoge in Halle zum höchsten jüdischen Feiertag, Yom Kippur, her. Also ist gerade Halle wohl der geeignetste Ort, um über den zunehmenden Antisemitismus zu sprechen – und über die Frage, wie heutzutage Wissen und die Erinnerung an den Holocaust vermittelt werden sollte. Darüber wird seit Donnerstag auf einer internationalen und interdisziplinären Konferenz in Halle gesprochen, organisiert von Literaturwissenschaftler Professor Werner Nell von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Man muss sagen, zwei Jahre Planung stecken drin, also dass es jetzt Halle geworden ist, ist eher Zufall. Und sicher haben Sie spannende Diskussionen gehabt in den letzten Tagen. Sind Sie zuversichtlich, dass der wachsende Antisemitismus – nicht nur in Deutschland – aufgehalten werden kann?
Werner Nell: Also Zuversicht ist vielleicht zu viel gesagt, aber ich bin noch nicht pessimistisch, so muss man das sagen. Ein erstes wichtiges Ergebnis ist erst einmal wieder zu konstatieren, es gibt diesen Antisemitismus, er ist nicht weggegangen, er ist auch nicht in irgendeiner Art und Weise dadurch, dass er bekämpft wurde, vom Feld verschwunden. Der Antisemitismus ist da und er ist in einer bestimmten Art und Weise auch da als eine Art Gift, was eine bestimmte Gesellschaft im Ganzen zersetzen kann. Das heißt, das ist eben nicht nur das Problem der Juden, das ist auch nicht das Problem der wenigen Leute, die sich jetzt aus irgendwelchen Gründen mit dem Antisemitismus beschäftigen, sondern die Gesellschaft muss sehen, dass da ein Gift ist, was sie insgesamt zersetzt.
Das, was der Anschlag in Halle gezeigt hat, ist ja erst mal, zwei Opfer sind Leute gewesen, die in irgendeiner Art und Weise – der eine in der Dönerbude, die Frau auf einer Straße – einfach erschossen werden von einem Idioten, der aber an dieser Stelle, man könnte sagen, sich beziehen kann auf ein ganzes diskursives Feld. In dem eben die Stimmung angeheizt wird, dass da jemand sich entschließt, heute fahre ich nach Halle in die Synagoge und erschieße da möglichst viele Juden.
"Der Antisemitismus war immer da und ist immer da"
Anwar: Sie haben in Bezug auf die Ereignisse in Halle in einem Interview gefragt, welche Strukturen es 75 Jahre nach dem Holocaust bei uns noch gibt, die solche Taten wie in Halle möglich machen. Was haben Sie damit gemeint?
Nell: Das Problem ist dieses noch. Als die Studien, das sind Langzeitstudien, beispielsweise des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung…, also, der Antisemitismus war immer da und ist immer da in einem bestimmten Ausmaß. Nun ist es aber so, dass der alten Bundesrepublik über lange Jahre hinweg – es ist eine Entwicklung von den 1950er Jahren bis in die 2000er Jahre hinein – gelungen ist, man könnte sagen, die öffentliche Wahrnehmung und dieses Giftfeld, die Kraft des Giftes des Antisemitismus, ein ganzes Stück weit zurückzudrängen. Da gibt es aber kein eindeutiges Rezept, dass man sagen könnte, wir würden das und das und das machen, und dann klappt das. Es ist eher so, das ist ein Zusammenspiel, ich würde sagen, von mindestens vier Faktoren.
Der erste Faktor ist im Prinzip die Aufgabe der Justiz, der Polizei, der Verwaltung, auch im Prinzip des Gesetzgebers, der also ganz bestimmte antisemitische Äußerungen unter Strafe stellt und auch dann dazu beiträgt, dass sie bestraft werden. Der zweite Faktor ist die öffentliche Diskussion. Und da sind wir auch zum Beispiel mit unserer Konferenz angelagert. Das heißt, wir versuchen schon, dazu beizutragen, dass die öffentliche Wahrnehmung von Antisemitismus wieder stattfindet, dass das in den Vordergrund gestellt wird und dass auch die Öffentlichkeit, aber auch der einzelne Mensch vor Ort – das heißt, da, wo er oder sie lebt, die Städte, die kleineren Gemeinden, die Vereine, die Wirtschaftsverbände und so weiter – sich dafür interessieren und auch ihre Position beziehen, dass das nicht sein kann. Der dritte Punkt ist die politische Bildung, das ist Schule, das ist das, was Lehrer und außerschulische Bildung anbetrifft.
Und der vierte Punkt, den muss man auch leider sagen: Es gibt auch so etwas wie ein internationales Klima. Jetzt in diesem Sommer war ja in Deutschland ein großer Bucherfolg gewesen, die Rede von Theodor Adorno in Wien 1967. Da ging es damals um die NPD. Und Adorno sagt, ich habe aber im Prinzip auch ein bisschen Zutrauen, erstens haben wir die alliierten Truppen noch in Deutschland stehen, die dafür sorgen werden, dass es keinen Rückfall in Nationalsozialismus gibt. Zweitens haben wir Nachbarn, die auf uns aufpassen. Wenn Sie die Nachbarn Deutschlands heute anschauen in ihrer innenpolitischen Verfasstheit, würde ich mal sagen, ist es im Prinzip schon prekär, da ein besonderes Zutrauen zu haben. Wir müssen es selbst machen, als Gesellschaft.
Eine neue Qualität des Hasses?
Anwar: Der Blick ging ja nicht nur nach Deutschland, sondern auf der Konferenz war es international. Gibt es eine neue Qualität des Antisemitismus weltweit oder auch europaweit?
Nell: Ob das eine neue Qualität ist, ich glaube ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, der Antisemitismus … Ich habe natürlich jetzt auch im Vorfeld der Vorbereitung der Konferenz auch noch mal ältere Dinge angeschaut. lm Prinzip die Frage, wie lange ist der Holocaust in Auschwitz geleugnet worden, er wird immer wieder geleugnet. Vor zwei Wochen war in Bielefeld eine Solidaritätsaktion gewesen für eine Holocaustleugnerin. Wenn Sie aber zurückgehen, dann finden Sie, das ist irgendwie so ein bisschen begleitend, man könnte sagen, das geht bis 1945, dazwischen war dann eben der Bruch der Nazizeit, wo man das eben mal ganz öffentlich machen konnte, aber auch davor ist das da.
Das heißt, das ist etwas, was im Prinzip moderne Gesellschaften und in einer gewissen Art und Weise auch die Kultur dieser modernen Gesellschaften begleitet. Sie haben Richard Wagner, der geschätzt wird, und die Schrift über das "Judenthum in der Musik"- das ist so ein Nebenschauplatz, die Musik ist trotzdem toll. Das stimmt vielleicht auch, aber trotzdem wird man sagen müssen, da ist eine lange, lange, man könnte sagen, Blutspur und ein sehr, sehr unangenehmes Feld, von den Antisemiten des 19. Jahrhunderts bis zu Herrn Brandner jetzt bei der NPD.
Anwar: Bei der AfD.
Nell: Bei der AfD, ja. Gut, okay, das war jetzt ein Freudscher Versprecher.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.