Das schleichende Gift
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Nicht erst seit Halle steigt die Sorge unter der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Die Statistik gibt ihnen Recht: Insbesondere antisemitische Gewalttaten nehmen zu. Die Echokammern des Netzes dienen als ideologische Verstärker.
Der Eingang des Jüdischen Bildungszentrums der orthodoxen "Chabad Lubawitsch-"Bewegung in Berlin wird von massiven Betonpollern geschützt. Polizei und Sicherheitskräfte bewachen das Grundstück. Jeder Besucher muss einen Kontrollbereich passieren, wie man ihn sonst nur von Flughäfen oder Gerichtsgebäuden kennt.
An der Wand des Büros von Jehuda Teichtal hängt ein Monitor, auf dem sämtliche Bewegungen im Haus und auf dem Grundstück überwacht werden können. Die Kühlung des Bildschirms erfüllt das Arbeitszimmer des Rabbiners mit einem leisen Hintergrundrauschen. Die Sicherheitsmaßnahmen am Gebäude wurden im Laufe der Jahre verstärkt, erklärt Rabbi Teichtal. Nicht ohne Grund.
"Schon in 2007, am 27. Februar, war unser Kindergarten am Spandauer Damm Ziel einer Attacke. Hakenkreuze und andere Wörter gegen Juden, die ich nicht erwähnen möchte, waren auf den Wänden und sogar auf dem Spielzeug. Einige versuchten das Haus, die Kita, anzuzünden. Leider ist die Entwicklung in den letzten Jahren schlimmer geworden."
Im vergangenen Sommer wurde Jehuda Teichtal selbst Opfer einer antisemitischen Attacke. Nach einem Gottestdienst haben zwei junge Männer den Rabbiner in Gegenwart seines Sohnes bespuckt und auf Arabisch beschimpft.
"Die erste Reaktion war, mein Kind in Schutz zu bringen, ein kleines Kind, damit es kein Trauma davonträgt. Aber danach sind ein paar Dinge passiert, weil mir klar war, dass man aus dem Negativen etwas Positives machen muss. Sonst lassen wir den Leuten den Sieg, die uns Angst bringen wollten."
Rückkehr nach Deutschland vor 23 Jahren
Vor gut 23 Jahren sind Rabbi Teichtal und seine Frau ohne Sprachkenntnisse von New York nach Berlin übergesiedelt. Ihr Ziel: jüdisches Leben in dem Land zu stärken, das den Holocaust zu verantworten hat. 63 Angehörige der Familie Teichtal sind von den Nationalsozialisten ermordet worden. In Jehuda Teichtals Elternhaus im New Yorker Stadtbezirk Brooklyn wurden deutsche Produkte konsequent boykottiert. Niemand wollte mehr etwas mit dem Land der Mörder von sechs Millionen Juden zu tun haben.
"Mein Großvater hat überlebt. Und als wir ihm erzählt haben, wir gehen nach Deutschland vor 23 Jahren, hat er gesagt: Geh hin, das ist die Antwort. Und das war auch die Idee, dass wir gekommen sind. Das war ein Rabbi in Amerika, der gesagt hat: Deutsche nicht ignorieren! Wo es dunkel war, bring Licht! Wo Hass war, bring Liebe! Und das ist wirklich jeden Tag die Aufgabe, Deutschland langfristig, dauerhaft zu einem positiven Land für Juden und für ein positives Miteinander zu machen."
Licht ins Dunkel bringen, das ist die Botschaft, die Rabbi Teichtal, wo immer er auftritt, lautstark verkündet. Das Miteinander stärken! Der Hass und die Angriffe auf ihn und andere Juden in Deutschland, das schleichende Gift des Antisemitismus, die Bedrohungen und Angriffe auf Synagogen und jüdische Einrichtungen werden den Rabbiner von seinen Überzeugungen nicht abbringen.
Ein entschlossener Kampf gegen Antisemitismus
Die Entschlossenheit des 48-jährigen Geistlichen mit Kippa, Bart und Brille ist stets spürbar. Nur wenige hundert Meter vom Jüdischen Bildungszentrum entfernt entsteht gerade ein Jüdischer Campus mit Schule und Kita, einem Veranstaltungssaal, einer Sporthalle und einem Kino. Ein 20-Millionen-Projekt.
"Ich glaube, immer, wenn ein Mensch eine Herausforderung im Leben hat, darf er nie nachgeben. Im Gegenteil, es muss als Ansporn, als Quelle der Ermutigung genutzt werden. Leider gibt es Menschen, die versuchen, Juden in Deutschland zu beleidigen, zu bespucken, zu bedrohen, Hass auszuüben. Wenn eine Mutter Angst haben muss, was passiert mit ihrem Sohn, der in der U-Bahn ist mit einer Davidsternkette. Es macht große Angst, wenn eine Mutter denken muss, was passiert mit meiner Tochter auf dem Schulhof. Das ist nicht normal."
Die Zahl der Gewaltdelikte steigt
"Im Jahr 2019 haben wir 386 Verfahren mit Sachverhalten mit antisemitischem Hintergrund eingeleitet", erklärt Claudia Vanoni. "Die häufigsten Delikte sind dabei Volksverhetzung, Beleidigung oder Propagandadelikte."
Claudia Vanoni ist seit dem 1. September 2018 Antisemitismusbeauftragte der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin, wo bundesweit die meisten antisemitischen Straftaten erfasst werden.
"Was mir auffällt, dass wir in den letzten Jahren eine Zunahme von Gewaltdelikten haben. Die Staatsanwaltschaft differenziert das nicht so eindeutig, aber ich weiß aus den polizeilichen Zahlen für Berlin, im Jahr 2017 wurden dort 7 Gewaltdelikte erfasst, im Jahr 2018 29 und vorläufig im Jahr 2019, das ist eine vorläufige Zahl, sind es 33 Delikte. Also es gab einen ganz immensen Sprung von 2017 auf 2018 und es steigt nochmal an."
Der Anschlag von Halle - keine Zäsur
Grausamer Höhepunkt der auch bundesweiten Zunahme von antisemitischen Straftaten war der Anschlag am 9. Oktober 2019 auf die Synagoge in Halle. Am Tag des jüdischen Versöhnungsfestes Jom Kippur beabsichtigte der Attentäter, so viele feiernde und betende jüdische Menschen wie möglich zu töten. Seine Bluttat übertrug er per Helmkamera live ins Internet.
Nachdem die unbewachte Tür zum Synagogengelände den Schüssen standgehalten hatte, erschoss der Täter wahllos eine 40-jährige Frau und einen 20-jährigen Mann. Zwei weitere Personen wurden schwer verletzt. In seinem Bekennerschreiben gab er sich als Anhänger der Theorie einer jüdischen Weltverschwörung zu erkennen.
Der antisemitische Anschlag von Halle knapp 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, verübt durch einen Rechtsterroristen, schockierte die deutsche Öffentlichkeit. Überall in Deutschland gab es Solidaritätskundgebungen, Mahnwachen und Trauermärsche. Der Anschlag von Halle wurde als Zäsur empfunden. Allerdings nicht von der jüdischen Minderheit.
Monitoring antisemitischer Demonstrationen
"Halle war für mich keine Zäsur. Überhaupt nicht. Wenn jemand das sehen wollte, konnte er es sehen", sagt Levi Salomon. Er ist 1991 als so genannter "jüdischer Kontingentflüchtling" aus der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin gekommen. Seit 1997 beobachtet er permanent rechtsextreme und antisemitische Tendenzen in der deutschen Gesellschaft und gründete 2008 mit Mitstreitern das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus.
"Beunruhigende Tendenzen haben wir auf der Straße bemerkt. Damals war das verstärkt die NPD. Und Islamismus hat mehr und mehr Fuß gefasst in unserer Gesellschaft. Im Laufe der Jahre sind mehr und mehr die so genannten 'Wutbürger' auf die Straße gegangen. Also wir haben von Anfang an die Pegida-Bewegungen, 'Wir für Deutschland', die Reichsbürger, etc. auf der Straße beobachtet."
2019 haben Levi Salomon und sein Team vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus auf ihrer Website einen Zusammenschnitt von rechtsextremen, islamistischen und rassistischen Kundgebungen veröffentlicht. Mit Handkameras und Smartphones begeben sie sich in hasserfüllte Menschenmengen, um die Vorfälle zu dokumentieren.
"Es ist schon gefährlich. Unsere Mitarbeiter und Freunde wurden mehrmals angegriffen von diesen Teilnehmern von diesen Kundgebungen. Aber wir versuchen, das zu dokumentieren, diese Vorfälle, und die Öffentlichkeit auf diese demokratiefeindlichen Phänomene aufmerksam zu machen und zu sensibilisieren. Und Bildungsmaterial zu liefern, auch Material für Journalisten, das steht frei für die gesamte Öffentlichkeit."
Die Verunsicherung steigt
Die steigende Zahl antisemitischer Straftaten führte in den letzten drei bis vier Jahren zu einer starken Verunsicherung unter den zirka 200.000 in Deutschland lebenden jüdischen Menschen. In rechten Netzwerken wird immer hemmungsloser zur Vernichtung von Juden aufgerufen. Auch der Zuzug einer großen Zahl von muslimischen Einwanderern sorgte in der jüdischen Community für Verunsicherung. So warnte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bereits 2015 in der F.A.Z.:
"Wenn man zwanzig oder dreißig Jahre lang mit einem israel- und judenfeindlichen Bild aufgewachsen ist, dann wird man dieses Bild nicht einfach an der deutschen Grenze aufgeben." Es gehe "um die Sorge, dass diese Bilder nach Deutschland transportiert werden könnten und hier zu einem Antisemitismus führen, der das Wertegefüge in eine Richtung brächte, die wir alle nicht wollen."
Im Frühjahr 2018 filmte ein 21-jähriger Kippa tragender Israeli mit seinem Handy, wie er im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg von einem 19-jährigen syrischen Flüchtling unter Beschimpfungen mit einem Gürtel geschlagen wird. In der Öffentlichkeit diskutiert man darüber, wie sicher Juden oder Menschen, die jüdische Symbole tragen, noch sind. Eltern und Lehrer berichten, dass sich die Formulierung "Du Jude!" inzwischen als Beleidigung auf Schulhöfen etabliert hat. Ein Titelbild des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, das unter der Überschrift "Jüdisches Leben in Deutschland" zwei Männer in orthodoxer Kleidung zeigt, sorgt für Aufregung, weil es auf Stereotype zurückgreift, wie sie in der NS-Propaganda üblich waren.
Wie sehr sich der Antisemitismus als schleichendes Gift in unserer Gesellschaft bereits ausgebreitet hat, wird natürlich zuerst von den jüdischen Mitbürgern wahrgenommen. 44 Prozent der in Europa lebenden Juden hätten laut einer Studie vom Dezember 2018 bereits darüber nachgedacht, den Kontinent zu verlassen. Im Juni 2019 warnte Felix Klein, der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung, davor, "überall in Deutschland die Kippa zu tragen."
Die Kippa als Zeichen der "positiven Offensive"
Ein junger Mann betritt ein Café in Berlin-Charlottenburg. Die Kippa auf seinem Hinterkopf ist nicht zu übersehen. Seit vergangenem Sommer trägt Mike Delberg die Kopfbedeckung als sichtbares Zeichen seiner jüdischen Identität. Das sei seine Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus und die Warnungen des Bundesbeauftragten. Er selbst nennt es eine "positive Offensive". In seiner Familie, die in den 70er-Jahren aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen ist, stieß die Aktion des 30-jährigen allerdings nicht nur auf Begeisterung.
"Als ich das erste Mal davon meinen Großeltern erzählte, hat mir meine Oma gesagt, ob ich nicht lieber eine Sonnenbrille anstatt der Kippa tragen wollen würde. Ich verstehe sie. Sie sind alle mit einer Vergangenheit hier nach Deutschland gekommen, wo das Judentum ihnen das Leben nicht leichter gemacht hat. Jüdisch zu sein, bedeutet an vielen Orten der Welt eben, sich einer Gefahr auszusetzen. Und tatsächlich ist es auch leider hier, in Teilen von Deutschland, so. Aber ich habe für mich relativ früh entschieden, dass ich nicht einer derjenigen bin, die sich verstecken, sondern jemand, der in die Offensive damit geht. Und ich glaube, dass, selbst wenn meine Eltern und Großeltern alle dagegen gewesen wären - was sie nicht sind, sie sind sehr unterstützend -, dann hätte ich's trotzdem getan."
Für viele Deutsche sind Juden "abstrakt"
Mike Delberg, der auch in der jüdischen Gemeinde aktiv ist und sich in der CDU engagiert, will mit dem Tragen der Kippa ein persönliches Zeichen setzen. Antisemitismus, Judenhass, davon ist Delberg überzeugt, richtet sich oft gegen das Unbekannte, gegen etwas, von dem man wenig weiß und nur eine vage Vorstellung hat.
"Viele Leute wissen einfach nicht, wer wir Juden sind. Sie hören über uns, sie lesen über uns in den Zeitungen, in den Geschichtsbüchern, sie wissen etwas über den Holocaust. Und das einzige, was sie wirklich mit einem Juden verbinden, ist Antisemitismus, der Holocaust und Israel. Und in irgendeiner Form ist alles für einige Leute negativ. Das bedeutet, wenn sie dann mal eine echte jüdische Person reffen, sind sie teilweise richtig erstaunt, dass die auch normal – in Anführungsstrichen –, cool, genauso wie man selbst sein kann. Unwissenheit ist, glaube ich, ein sehr großer Faktor. Der Jude ist so abstrakt für sie, weil sie halt keine jüdischen Leute kennen, dass sie das alles auf diese Personen abwälzen können. Aber was sie halt nicht bedenken, dass wir keine abstrakten Gestalten, sondern echte Menschen sind und dass es uns sehr hart trifft, wenn man uns für Dinge verantwortlich macht, für die wir natürlich nichts können."
Antisemitismus - keine Straftat per se
Die International Holocaust Remembrance Alliance definiert den Begriff Antisemitismus so:
"Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die im Hass auf Juden Ausdruck finden kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nicht-jüdische Individuen und/oder ihr Eigentum, gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen."
"Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die im Hass auf Juden Ausdruck finden kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nicht-jüdische Individuen und/oder ihr Eigentum, gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen."
Eine Definition, die offiziell von der Bundesregierung übernommen wurde. Auch die Berliner Strafvollzugsbehörden beziehen sich inzwischen auf diese Begriffserklärung, erläutert Oberstaatsanwältin Claudia Vanoni. Antisemitismus an sich sei jedoch nicht strafbar.
"Wir haben Straftatbestände zum Beispiel wie die Volksverhetzung, wenn es darum geht, den Holocaust zu leugnen, dann ist das eine Straftat. Oder wenn man zum Hass oder zur Gewalt gegen Jüdinnen oder Juden aufstachelt, ist das eine Straftat. Es gibt antisemitische Beleidigungen, und drüber hinaus gibt es Straftatbestände wie zum Beispiel die Körperverletzung oder Sachbeschädigung, die dann Antisemitismus sind, wenn sie mit einem antisemitischen Motiv begangen werden. Aber Antisemitismus für sich genommen, das ist eine Weltanschauung, das ist eine Einstellung, aber das ist noch keine Straftat."
Milde Strafen für Täter
Die Antisemitismusbeauftragte der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin sieht sich als eine Art Bindeglied zwischen ihrer Behörde und der jüdischen Community. Dort sind Unmut und Unverständnis über Strafverfolgung und Rechtssprechung bei Delikten mit antisemitischem Hintergrund deutlich gewachsen. Vielen erscheinen die Urteile zu mild. Warum erhält der so genannte "Gürtelschläger" nur vier Wochen Arrest? Warum kommt ein Mann, der versucht, in die Neue Synagoge in Berlin-Mitte mit einem Messer einzudringen, wegen "mangelnder Haftgründe" auf freien Fuß?
Der Zentralrat der Juden ist empört, spricht von einem "Versagen" der Justiz. Auch die beiden Männer, die Rabbi Teichtal bespuckten und beleidigten, kamen straffrei davon.
"Ich bin sehr enttäuscht. Ich finde, die Polizei hat gute Ermittlungsarbeit gemacht. Mehr muss gemacht werden auf Seiten der Justiz, um das Vertrauen der Menschen in der Gesellschaft zu stärken. Einfach klipp und klar. Die Menschen müssen sehen, es gibt Konsequenzen, wenn sie jemanden beleidigen, bespucken. Dort wird mehr gefordert. Es müssen vorhandene Gesetze stärker angewendet werden. Es muss mehr gemacht werden im Bereich Bildung und Erziehung, präventiv, mehr Sensibilisierung. Mehr Verantwortung."
Der rechtliche Rahmen der Strafbemessung
Genau darin sieht Claudia Vanoni ihre Aufgabe als Antisemitismusbeauftragte der Generalstaatsanwaltschaft. Sie will vermitteln, aufklären, die Mitarbeiter ihrer Behörde für strafschärfende antisemitische Motive sensibilisieren und Urteile verständlich nach außen kommunizieren. Zum Beispiel den Fall des "Gürtelschlägers", der als Heranwachsender nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wurde.
"Für die Gesellschaft ist angekommen: Der Mann hat einen anderen Mann aus antisemitischer Motivation mit einem Gürtel geschlagen und bekommt nur vier Wochen Dauerarrest. Wenn man die ganzen gesetzlichen Gegebenheiten dazu sieht, dann sind das eben nicht 'nur' vier Wochen Dauerarrest, sondern es ist so, dass bei einem Heranwachsenden, auf den Jugendstrafrecht Anwendung findet, man nur unter ganz engen Voraussetzungen überhaupt eine Jugendstrafe verhängen kann. Und die waren bei dem Mann nicht gegeben. Und dann gibt es eben nur noch andere Ahndungsmöglichkeiten, und von diesen anderen Ahndungsmöglichkeiten waren die vier Wochen Dauerarrest die höchstmögliche Ahndung. Also hat er letzten Endes unter diesen Gegebenheiten das Höchste bekommen, was man ihm hat geben können."
Im Strafgesetzbuch, Paragraph 46, Absatz 2, der nach den NSU-Morden eingeführt wurde, heißt es:
"Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende."
"Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende."
Dieser Absatz soll künftig durch den Zusatz "antisemitische Motive" erweitert werden. Das sei wichtig, meint Claudia Vanoni: "Ich erhoffe mir davon eine erhöhte Sensibilität bei der Anwendung dieser Vorschrift, dass eben, wenn eine Tat antisemitisch motiviert ist, das dann auch explizit zum Beispiel in der Urteilsbegründung vom Gericht Erwähnung findet."
Antisemiten organisieren sich im Netz
Fast die Hälfte der antisemitisch motivierten Straftaten findet mittlerweile im Internet statt. Anonym und bislang mit geringem Entdeckungsrisiko lassen Antisemiten dort ihrem Judenhass in Verschwörungstheorien und Vernichtungsfantasien freien Lauf.
"Im Internet gibt es bestimmte Foren, die hochproblematisch sind. Wir beobachten bestimmte Foren und versuchen zu verstehen, welche Prozesse dort ablaufen."
Mit wachsender Sorge registrieren auch Levi Salomon und seine Mitarbeiter vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus eine deutliche Zunahme von antisemitischer Hetze im Netz:
"Der Attentäter von München und der Attentäter von Halle waren in demselben Forum. Außerdem gibt es ein Pendant zu Facebook, die russische VK. Da organisieren sich Rechtsextreme. Bei Telegram organisieren sich Rechtsextreme. Das muss unbedingt beobachtet werden."
Um über den Hass gegen jüdische Menschen im Internet aufzuklären, hat Levi Salomon Gelder für ein Bildungsprojekt beantragt: "Antisemitismus 2.0".
"Frau Schwarz-Friesel, eine Forscherin, Professorin, hat in dem Bereich die Grundlagenforschung durchgeführt. Und basierend auf dieser Grundlagenforschung versuchen wir nun angewandte Forschung zu betreiben, wo wir sagen, wir müssen die Modelle, die Handreichungen entwickeln, diesen Problemen zu begegnen."
Eine erschreckende Radikalisierung
Monika Schwarz-Friesel, Kognitionswissenschaftlerin und Antisemitismusforscherin an der Technischen Universität Berlin, erklärt: "Das Besondere im Internet ist, dass sie multimodal herüberkommen. Das heißt, wir haben nicht nur die sprachlichen Äußerungen mit den Morddrohungen und Beschimpfungen und Dämonisierungen – 'Judenschweine, ekelhaftes Pack, ab ins Gas mit euch' oder 'wir wollen einen zweiten Holocaust' –, sondern wir haben daneben eben auch Bilder, Audios und Videos. Das macht das Ganze natürlich nochmal intensiver."
Gemeinsam mit ihrem Team untersuchte Monika Schwarz-Friesel in einer Langzeitstudie Judenfeindschaft im Netz, die sie im vergangenen Jahr hier im Deutschlandfunk Kultur vorgestellt hat. Dabei beobachtete sie nicht nur eine deutliche Zunahme von antisemitischen Hassbotschaften, sondern auch eine erschreckende Radikalisierung:
"Besonders ausgeprägt ist im Internet der Vernichtungswille in Bezug auf Juden, Judentum und den jüdischen Staat Israel – und das mit einer Hassartikulation, wie man sie sonst im öffentlichen Raum so nicht antrifft. Da sitzen diese Leute zu Hause am heimischen PC oder mit ihrem Smartphone, und sie haben niemanden gegenüber aus Fleisch und Blut. Das ist eine körperlose Kommunikation, eine hoch abstrakte Kommunikation. Sie posten ihren Hass praktisch in den leeren Raum an Dritte, an unbekannte Dritte. Das heißt aber nicht, dass der Antisemitismus so nicht existieren würde, wenn wir das Netz und seine Eigenschaften nicht hätten. Denn das Netz holt ja das, was in den Köpfen ist, nur hervor und beschleunigt es, ist praktisch der Katalysator, der Beschleuniger für antisemitische Äußerungen."
Antisemitismus ist laut Schwarz-Friesel ein "Weltdeutungssystem", das seit 2000 Jahren existiert und sich seit der Gründung des jüdischen Staates 1948 auf Israel konzentriert.
Verschwörungstheorien grassieren auch unter Gebildeten
"Ich finde es nicht gut, was Israel in den besetzten Gebieten macht, aber dass es Israel gibt, ich bin Zionist. Ich finde es gut und richtig", sagt David Ranan, ein in Tel Aviv geborener deutsch-britisch-israelischer Politikwissenschaftler. "Aber es kann sein, dass mein Großvater, der aus Deutschland kam, in der Tat in einem Haus wohnt, das dem Großvater von dem Mann, der mich von Zeit zu Zeit rasiert, gehört hat und der seitdem kein Zuhause hat. Ich habe ein gutes Zuhause. Und mehr als eins. Und er nicht."
Vor zwei Jahren veröffentlichte Ranan eine qualitative Studie zu muslimischem Antisemitismus - zu einer "politisierten Thematik" also, wie er meint. Dazu befragte er 70 Muslime in Deutschland und England zu Ihrer Einstellung gegenüber jüdischen Menschen, der jüdischen Kultur und gegenüber Israel. Die Interviewpartner, die er auswählte, waren allesamt Menschen mit Hochschulbildung. Damit wollte er sichergehen, nicht nur Slogans und Schlagwörter präsentiert zu bekommen, sondern Narrative.
"Man hätte ja vielleicht denken können, ja, gut, du interviewst ja die gebildeten Leute. Die werden natürlich so klug sein, die werden ihren Antisemitismus kaschieren. Bei denen hörst du gar nichts. Und das war nicht der Fall. Ich habe wirklich die ganze Bandbreite von Vorurteilen über Juden und teilweise auch Verschwörungstheorien gehört."
Der vom Katholizismus importierte Antisemitismus
Zu hören bekam er Positionen wie "Das sind halt Juden, und die haben die Regierung quasi. Diese ganzen Seuchen, Bakterien, die hier überall in der Welt verteilt werden, sollen auch von dort stammen, das heißt, das ganze System dieser Welt! Ich denke schon, dass Juden sehr, sehr, sehr viel die Welt manipulieren und sie auch beherrschen. Das glaube ich wirklich!‘"
"Die Vorurteile, die sie haben, sind die aus dem christlichen, europäischen Antijudaismus, der in die arabische Welt exportiert wurde, Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts über katholische Missionare. Sie haben die Protokolle der Weisen von Zion zum Beispiel ins Arabische übersetzt, niemand hat sich dafür interessiert. Mittlerweile sind sie sehr populär in der arabischen Welt. Was sich geändert hat, ist die Besiedlung eines Gebiets, das in der arabischen Welt als muslimisches Land gesehen wird, Palästina. Und das brachte die arabische Welt dazu, Juden, die sich dann ab '48 Israelis nannten, als Feind zu sehen."
Wo endet legitime Kritik?
Die Kritik an der israelischen Siedlungspolitik kann David Ranan durchaus nachvollziehen. Doch wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus?
"Wenn jemand sagt: Ich will nicht, dass es Israel geben soll, weil die Juden bekommen kein Land. Dann ist das keine Israelkritik, dann ist es Antisemitismus. Oder wenn man sagt: Ja, schaut, wie die Israelis die Palästinenser behandeln, das ist typisch jüdisch. Das ist antisemitisch. Wenn jemand sagt, es ist skandalös, dass die Israelis die Palästinenser so schlecht behandeln, und ich verstehe nicht, wieso ein Volk, das selber so gelitten hat, sich so benehmen kann, sehe ich darin keinen Antisemitismus, das sage ich auch."
"Ich finde, für dieses Verständnis kann auch der so genannte 3D-Test ganz hilfreich sein. Drei Ds: Da steht das erste D für Dämonisierung, das sind zum Beispiel Vergleiche von Israel mit Nazideutschland. Das zweite D - doppelte Standards. Die liegen vor, wenn ausschließlich die Politik Israels kritisiert wird, aber Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern komplett ignoriert werden, also der Fokus nur auf Israel liegt. Und das dritte D, das steht für Delegitimierung. Da ist die Kritik dann antisemitisch, wenn Israel das Existenzrecht abgesprochen wird - generell."
Ist die israelkritische Kampagne BDS antisemitisch?
Aufgrund solcher Kriterien verurteilte der Bundestag im vergangenen Jahr die BDS-Bewegung als antisemitisch. BDS steht für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen. Die transnationale Kampagne richtet sich gegen die Besatzung palästinensischer Gebiete, fordert eine Gleichstellung von Palästinensern in Israel sowie das Recht von Flüchtlingen auf eine Rückkehr in ihre Heimat. David Ranan gehört zu 240 jüdischen oder israelischen Wissenschaftlern, die in einem offenen Brief an die Bundesregierung die Entscheidung kritisierten.
"Wir sind verschiedener Meinung über BDS, aber was ganz klar ist, dass es nicht antisemitisch ist. Ich verstehe auch nicht: Wie genau sollen sich Palästinenser wehren dürfen? Also Terroraktivitäten wollen wir ja nicht haben. Jetzt kommt eine Kampagne, die sagt: Wir benutzen keine Gewalt, aber wir wollen gefälligst die Israelis weg von den besetzten Gebieten haben. Bitte boykottiert, kauft nicht ihre Ware. Das sollen sie auch nicht machen dürfen? Was denken sich eigentlich deutsche Politiker? Dass sie ihre eigene Schuld für das, was die Generation ihrer Großeltern getan hat, abarbeiten, indem sie die Palästinenser schlecht behandeln? Es ist wirklich skandalös."
Für Ranans Kollegin, die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel, ist die Boykottbewegung hingegen ein klarer Fall von israelbezogenem Antisemitismus: "Es wird sehr oft von der BDS-Kampagne behauptet, Israel habe Züge eines Apartheid-Staates. Ein Apartheid-Staat, wie das frühere Südafrika, hatte getrennte Universitäten, getrennte Bänke. Es standen tatsächlich Schilder 'only for whites'. Nichts davon werden Sie in Israel finden. Auch bei mir gibt es vieles, was ich an der Netanjahu-Regierung oder an vielen Dingen, die im Land existieren, kritisiere. Aber ich benutze deshalb keine Apartheid-Vergleiche. Ich dämonisiere nicht. Ich delegitimiere nicht. Und ich fordere auch nicht, dass jüdische Wissenschaftler und Musiker und Waren boykottiert werden sollen."
Der Dialog muss weitergehen
Richtfest auf dem Jüdischen Campus in Berlin-Wilmersdorf. Jehuda Teichtals Antwort auf Antisemitismus und Rassismus, auf die Mordanschläge von Halle und Hanau: ein Ort der Begegnung, unweit der Straße, in der der Rabbiner bespuckt und beleidigt wurde. Unter den Gästen: Vizekanzler Olaf Scholz, der Berliner Bürgermeister Michael Müller und der Zentralratspräsident der Juden in Deutschland Josef Schuster.
Unisono sprechen sie sich für einen offenen Dialog als probates Mittel gegen das Gift des Antisemitismus aus. Auch Mike Delberg sucht weiter den Dialog. Bislang hat der Kippa tragende junge Mann Glück gehabt. Abgesehen von irritierten Blicken und Bemerkungen war er bislang keinen Anfeindungen oder Angriffen ausgesetzt gewesen. Dafür gab es durchaus Mut machende Begegnungen:
"Beispielsweise rauche ich gerne Zigarren. Dann sitzt man in einer Zigarren-Lounge und dann kommt jemand auf einen zu und fragt einen: Sag mal, du trägst eine Kippa, du bist ja anscheinend jüdisch, ist das denn koscher? Und ich liebe diese Situationen, weil man dann in diesen positiven Dialog kommt, was überhaupt jüdisches Leben hier in Deutschland ist."