Antisemitismus in Europa 1880-1945

Götz Aly: "Ich bin kein Relativierer"

Der Historiker Götz Aly
Der Historiker Götz Aly © dpa / picture alliance / Arno Burgi
Götz Aly im Gespräch mit Vladimir Balzer und Axel Rahmlow |
In seinem im Februar erscheinenden Buch "Europa gegen die Juden" erzählt der Historiker Götz Aly die Geschichte des Antisemitismus in Europa von 1880-1945. Er untersucht darin auch, in welchem Ausmaß sich verschiedene Länder am Holocaust beteiligten.
Der Historiker Götz Aly sieht seine aktuelle Arbeit an der Geschichte des Antisemitismus und der Judenverfolgung in Europa als Ergänzung seiner Forschungen und Publikationen über die Judenvernichtung der deutschen Nationalsozialisten. Im Interview mit Deutschlandradion Kultur sagte er am Dienstag: "Ich glaube, dass meine wissenschaftliche Biografie klarmacht, dass ich kein Relativierer bin. Die andere Seite ist eben die: Man versteht den Ablauf des Holocaust nicht in den einzelnen Ländern, wenn man nicht auch das Verhalten der Bevölkerungen und der Kollaborierenden oder zwangsweise eingesetzten Regierungen oder Verwaltungen sowie der Bevölkerungen in einzelnen Städten mit in Betracht zieht."

Der gesamte Kontinent war beteiligt

"Europa gegen die Juden" lautet der Titel des für das nächste Jahr angekündigten Buches von Aly. Darin beschreibt Aly, in welchem Ausmaß sich zwischen 1880 und 1945 in unterschiedlichen europäischen Ländern antisemitische Einstellungen ausbreiteten und inwieweit sich der gesamte Kontinent am Holocaust beteiligte. Wichtig und interessant an seiner Arbeit sei die Erkenntnis, dass "das Maß des Antisemitismus" in einem Land nicht unbedingt auch auf das Maß der Beteiligung am Holocaust schließen lasse, betonte Aly.

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Moderator: Herr Aly, woher ist Ihr Impuls gekommen, gerade jetzt in dieser Zeit ganz Europa mal wieder in den Blick zu nehmen?
Aly: Der Impuls ist schon ganz alt. Ich wollte seit 1993 dieses Buch schreiben, aber die Zeit war noch nicht reif.
Moderator: Jetzt ist sie es?
Aly: Jetzt ist sie es, auch aus biografischen Gründen, weil ich ein großes Buch über den deutschen Antisemitismus geschrieben habe, das war meiner Ansicht nach eine Voraussetzung. Und nachdem ich das getan hatte, war es möglich, über Europa zu schreiben. Und das war ein zweiter Grund, seitdem die Selbsteineisung Europas beendet worden ist 1989/90, sind die Archive aufgegangen und überall ist neu geforscht worden, sind unendlich viele Publikationen erschienen, die es erlauben, nun einen zusammenfassenden Blick auf Europa zu werfen.
Moderator: Sie schreiben unter anderem über Frankreich, auch über Belgien, Sie blicken auch nach Osteuropa. Gibt es so etwas wie einen europäischen Antisemitismus?
Aly: Also, es gab Antisemitismus natürlich in allen Ländern, und sehr unterschiedlich. Das Maß an Antisemitismus hat nicht unbedingt zu tun mit der Beteiligung am Holocaust. Also, es geht darum, Unterschiede auch herauszuarbeiten in diesem Buch: Einen sehr starken Antisemitismus zum Beispiel auch in Belgien und dennoch haben sich die Belgier sehr zurückhaltend beteiligt; wir haben staatliche Kollaboration und eigene Judengesetzgebung im besetzten Frankreich, aber die französische Gesellschaft hat drei Viertel der französischen Juden gerettet. Und diese Unterschiede und auch die Vorgeschichten, die spielen in dem Buch eine Rolle. Zentral ist natürlich der Antisemitismus in Russland, in Polen, in Rumänien, auch das geschieht im Hinblick auf den Holocaust, denn man muss sich klarmachen: 5,2 Millionen der sechs Millionen ermordeten Juden kamen aus Osteuropa, aus den westeuropäischen Ländern - auch aus Deutschland - nur ein relativ kleiner Anteil.
Moderator: Sie haben gerade erwähnt, dass Sie sich erst mit dem deutschen Antisemitismus, der deutschen Rolle des Holocaust beschäftigen mussten, um auf Europa zu gucken. Jetzt könnte man natürlich aber auch sagen: Dadurch, dass man jetzt so im Kern auf Europa schaut, wird automatisch auch ein bisschen relativiert, dass die Ausgangslage aus Deutschland war. Sind Sie für diesen Vorwurf gewappnet, wenn er kommen sollte?
Aly: Ich rechne mit dem Vorwurf. Ich glaube, dass meine wissenschaftliche Biografie klarmacht, dass ich kein Relativierer bin. Die andere Seite ist eben die: Man versteht den Ablauf des Holocaust nicht in den einzelnen Ländern, wenn man nicht das Verhalten der Bevölkerungen und der Kollaborierenden oder zwangsweise eingesetzten Regierungen oder Verwaltungen, Bevölkerungen auch in einzelnen Städten mit in Betracht zieht. Sie haben zum Beispiel das Phänomen, dass in Antwerpen die Deutschen 65 Prozent der Juden verhaften konnten mithilfe der dortigen flämischen Polizei, aber in Brüssel nur 30 Prozent. Weil die Polizei und die Bürgermeister in Brüssel nicht mitgemacht haben. Und das muss man herausarbeiten. Es ist grob gesprochen natürlich ein Unterschied zwischen den Flamen und den Wallonen, die Flamen sind hofiert worden vom Nationalsozialismus als germanische Bevölkerung und so weiter. Aber es gibt noch ganz andere Unterschiede. Es liegt zum einen an Personen, es liegt auch an Zufällen und es liegt an den Möglichkeiten der deutschen Besatzungsmacht und dem Kriegsverlauf.
Moderator: Aber heißt das, dass man Ihr Buch auch als Plädoyer dafür verstehen kann, dass da noch mehr Aufarbeitung in den europäischen Ländern stattfinden muss, was letztlich auch die Verstrickung am Holocaust betrifft?
Aly: Das ist sehr unterschiedlich. Also, in ganz Frankreich finden Sie an den Schulen Tafeln: Auf dieser Schule wurden die und die Schüler mit Unterstützung des Vichy-Regimes und der französischen Gendarmerie nach Auschwitz deportiert und durch die Nazi-Barbaren ermordet. Da ist ganz klar die Mitverantwortung des französischen Staates benannt. Litauen, der Präsident damals bald nach der Wende, hat sich in der israelischen Knesset entschuldigt. Es geht nicht darum, die Schuld zu verschieben oder die Tatherrschaft der Deutschen infrage zu stellen, das waren diejenigen, die von jetzt auf gleich sagen konnten: Schluss damit! Die anderen konnten das alle nicht und die anderen standen zusätzlich unter deutschem Terror und Krieg, und der Krieg verändert die moralischen und sonstigen Vorstellungen enorm, das können wir uns gar nicht vorstellen heute. Aber man versteht nicht und man muss darüber reden: Der Holocaust ist eben ganz zweifellos also der Tiefpunkt der deutschen Geschichte, aber es ist auch ein Tiefpunkt der europäischen Geschichte. Und das gilt es unabhängig von der Frage der deutschen Allein- und Hauptschuld zu erörtern. Und auch die Vorgeschichte des jeweiligen Antisemitismus in den einzelnen Ländern und auch der Interessenlagen im Hinblick auf die Juden … Es war einfach überall viel Antisemitismus entstanden, nach dem gesagt wurde, die Juden müssen hier irgendwie weg. Und davon handelt dieses Buch. Und ich hoffe, dass es nicht missverstanden wird, und da bin ich eigentlich auch ganz guter Hoffnung.
Moderator: Lassen Sie uns den Bogen spannen zum Jahr 1880. 1945 ist klar, aber 1880, warum 1880?
Aly: Was Sie als Historiker tun und wie Sie den Ausschnitt wählen, das ist so willkürlich wie in der Fotografie. Aber für 1880 spricht einiges. Das ist auch das Jahr, in dem der deutsche Antisemitismus beginnt, Form und Gestalt annimmt, nämlich mit den Aufsätzen von Treitschke und der berühmten Diskussion im preußischen Abgeordnetenhaus über die Antisemitismusfrage, und es ist auch in anderen Ländern so. 81/82 finden die ersten flächendeckenden Pogrome in Russland statt, auf diesem Hintergrund entwickelt sich der Zionismus sehr schnell und in Frankreich beginnt es auch langsam, aber sicher. Und es ist für Europa generell die Zeit eines riesigen industriellen Umbruchs und großen Fortschritts, der mit sozialer Entwurzelung sehr vieler Menschen und dem Anwachsen der Großstädte und so weiter und auch Pleiten und Wirtschaftskrisen, riesigen Auswandererströmen in die USA zu tun hat. Also eine völlige gesellschaftliche Umwälzung. Und meine These ist auch, dass das natürlich eng damit zusammenhängt, dass der Antisemitismus anwächst und sich organisiert. Und ich kann mich noch auf den berühmten jüdischen Historiker Simon Dubnow stützen, der hat auch seinen letzten Band begonnen mit dem Jahr 1880 in die Moderne und gibt im Grunde ähnliche Gründe dafür an.
Moderator: Noch eine abschließende Frage, Götz Aly: 1945 endet Ihr Buch, aber der Antisemitismus in Europa endet da ja nicht. Was ist das heute für ein Antisemitismus, den wir haben?
Aly: Na ja, also, der Antisemitismus ist anders geworden. Es ist ein Großteil so ein Antisemitismus ohne Juden oder mit sehr wenigen Juden oder sehr kleinen jüdischen Minderheiten, und er hängt auch damit zusammen – auch das soll das Buch zumindest zeigen –, was daran anders ist, ist, dass es ein Antisemitismus des schlechten Gewissens ist. Man weiß in Europa in den einzelnen Ländern, dass man damit zu tun hat. Dass ganz Europa davon profitiert hat. Das Eigentum der Juden in Europa, die Häuser, die Liegenschaften, die Fabriken, die Kleidungsstücke, alles, das ist überall, das ist auch von den Deutschen in den besetzten Ländern verteilt worden, das ist nicht nach Deutschland gebracht worden. All davon haben die Leute eine Ahnung. Sie sehen noch im Osten Europas teils die Ruinen der Synagogen, die verwilderten Friedhöfe. Die Spuren der Juden etwa in Wilna, die baulichen Spuren, das ist alles in den 1950er, 60er Jahren dann erst von den litauischen Behörden getilgt worden. Die Hauptsynagoge dort ist nach dem Krieg, nicht im Krieg gesprengt worden, als die Juden weg waren. Und es hat danach noch einen Exodus gegeben. Man muss sich klarmachen: Von den 1,5 Überlebenden des Holocausts, die westlich der sowjetischen Grenze lebten, sind innerhalb von drei Jahren nach dem Krieg die Hälfte ausgewandert aus Europa, also, fühlten sich heimatlos. Egal ob in Tschechien, in Ungarn, in Polen oder Frankreich - sie sind geflohen aus einer Welt, die ihnen eine Welt des Horrors schien.
Moderator: Götz Aly, vielen Dank für das Gespräch, dass Sie bei uns waren. Der Historiker über die Hintergründe seines Buches, das im Februar bei S. Fischer erscheint: "Europa gegen die Juden. 1880 bis 1945". Vielen Dank für das Gespräch!
Aly: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Unsere Reihe "Woran arbeiten Sie?"
Die meisten von uns haben Vorsätze für das kommende Jahr. Noch fünf Tage, dann beginnt das Jahr 2017. In den Tagen zwischen den Jahren wollen wir im Deutschlandradio Kultur von Wissenschaftlern und Kulturschaffenden wissen, wer schon handfest dabei ist, aus einem guten Vorsatz eine Tat zu machen. Das sind unsere Gesprächspartner:

Dienstag, 27.12.
Joseph Vogl, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, über seine Arbeite an dem Werk "Epoche des Amok"
Hark Bohm, Drehbuchautor, über seine Zusammenarbeit mit Fatih Akin
Götz Aly, Historiker, über den Antisemitismus in Europa

Mittwoch, 28.12.
Ersan Mondtag, Theaterregisseur
Thomas Mettenleiter, Vogelgrippeforscher
Felix Meyer, Musiker

Donnerstag, 29.12.
Günter M. Ziegler, Mathematiker
Stefan Selke, Soziologe
Gila Lustiger, Schriftstellerin

Freitag, 30.12.
Doris Dörrie,Regisseurin
Armin Falk, Verhaltensökonom Armin Falk
Emmanuelle Charpentier, Genforscherin

Samstag, 31.12.
Bruce Allen, Forscher am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik

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