Ist es Zeit für Juden, Europa zu verlassen?
Davidsterne werden unter dem Schal verborgen, Käppchen abgesetzt: In den jüdischen Gemeinden in Deutschland und anderen Ländern Europas kursiert die Angst. Sollten Juden Europa besser verlassen? Ein Kommentar.
Ist es für Juden an der Zeit Europa zu verlassen? Die amerikanische Zeitschrift "The Atlantic", für die schon Mark Twain und Emily Dickinson geschrieben haben, stellt diese Frage in einer großen Reportage und resümiert: Fünfzig Jahre lang habe die Erinnerung an den Holocaust antisemitische Auswüchse auf dem Kontinent gebremst, doch die Mordanschläge von Paris, Toulouse und Kopenhagen wiesen auf ein neues Phänomen, eine Allianz aus angstvollen Inländern und Migranten, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen sähen.
Siebzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches warnt sogar die deutsche Kanzlerin vor dem neuem Antisemitismus. Jüdisches Leben sei Teil der deutschen Kultur, sagte Angela Merkel am 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, das müssten "wir alle" den Rechtsextremen klarmachen. Und der Bundespräsident dankte Zeitzeugen und ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, dass sie wieder mit Deutschen redeten. Nachdenklich, würdig und differenziert traten die Repräsentanten der Bundesrepublik bei den Gedenkveranstaltungen der vergangenen Tage auf.
Der Rassismus in Deutschland ist salonfähig geworden
Die Pegida-Demonstranten schwiegen zwar in dieser Zeit fein still, aber ihre Ressentiments, die Ängste der Das-wird-man-ja-wohl-mal-sagen-dürfen-Wutbürger brachen sich auch in den Tagen der Erinnerung klammheimlich ihre Bahn. Nur eine Nachricht von vielen, die kaum noch Empörung hervorrufen kann, sei hier erwähnt: "Unbekannte haben in der pfälzischen Ortschaft Limburgerhof das Dach eines im Bau befindlichen Asylantenheimes in Brand gesteckt. Auf dem Gelände sollten Unterkünfte für 16 Asylbewerber entstehen." Sechzehn! Der Rassismus in Deutschland ist salonfähig geworden, befördert durch Pegida und die Mitte der Gesellschaft, erklärte der Sprecher der Diakonie.
Und in den jüdischen Gemeinden kursiert derweil die Angst. Laut spricht man nicht darüber, man will nicht provozieren. Doch Davidsterne werden nach der Synagoge unter dem Schal verborgen, Käppchen werden abgesetzt, Gebetsschnüre versteckt und Mesusot – Schriftkapseln – von Türpfosten abmontiert. Dass die meisten Überfälle auf Juden oder Israelis von arabischstämmigen Jugendlichen verübt werden, verweist auf eine paradoxe Allianz. Islamisten und Rechtsradikale, Ausländerhasser und marginalisierte Ausländer suchen nach einem Sündenbock.
Ist es für Juden an der Zeit Europa zu verlassen?, fragt "The Atlantic", das US-Journal. Und wenn, im Koffer oder im Sarg? Und Wendy, eine Studentin klagt: "Heute rufe jeder: Je suis Charlie! In dieser Bedrohungssituation aber leben wir Juden seit Jahren und allen ist es egal."
Erst wenn Hass und Attacken als Phänomene begriffen werden, die die Gesellschaft selbst bedrohen - und nicht als Probleme der angegriffenen Minderheit -, erst dann wird diese neue Welle einer alten Inhumanität effizient zurückgedrängt und überwunden werden.