Negativrekord in Großbritannien
290.000 Juden leben im für seine Weltoffenheit bekannten Großbritannien. Doch der jährliche Report der Sicherheitsstiftung der Jüdischen Gemeinde zeigt, dass die Zahl der antisemitischen Übergriffe 2014 so hoch war wie noch nie. Wie gehen die britischen Juden mit der Bedrohung um?
"Antisemitismus, das gab es ja immer. Das ging nie weg. In Frankreich ist es doch schlimmer als in England. Aber mehr hat man Angst vor Terror, islamistischem Terror und man weiß, das kann man nicht 100 Prozent vermeiden. Da hat man Angst, meine Gemeinde hat Angst."
3000 Menschen gehören zur Gemeinde von Rabbi Jonathan Wittenberg, der die Synagoge New North London leitet. Der 57-Jährige mit Kippa und weißem Vollbart hat in sein gemütliches Backsteinhaus in Finchley eingeladen. Er serviert Tee.
"Das Gemeinschaftsgefühl war immer stark und groß und ist so jetzt."
Und dann erzählt der freundliche, hagere Mann mit den eindringlichen Augen unter buschig- schwarzen Brauen von seinem Großvater Georg Salzberger, der bis 1937 Rabbi in der Frankfurter Westend-Synagoge war. Vor fünf Jahren hat der Enkel das ewige Licht von Frankfurt im Rucksack nach Finchley in seine Synagoge getragen – zu Fuß, den Rhein stromabwärts entlang.
"Ich finde nicht, dass alles umsonst war und wir jetzt wieder in den 30er-Jahren leben. Es ist anders. Meine Mutter sagt sogar, sie hat jetzt sogar mehr Angst als damals. Ich hab die Idee, sie meint, dass die Welt moralisch unsicherer ist."
Heute wappne man sich als Gemeinde. Dazu gehörten Begegnungen mit Muslimen, Erlebnisberichte aus Frankreich und – die enge Zusammenarbeit mit dem Community Security Trust.
"Dieser Trust spielt eine große und wichtige Rolle. Wenn die jüdische Gemeinde irgendetwas macht, sind sie da und sie sind doch gut."
Aufbruch. Wir sind in einer halben Stunde mit dem CST verabredet, und Rabbi Wittenberg verschenkt zum Abschied ein Buch über seine Pilgerreise am Rhein. "Walking with the Light" heißt es.
Mehr Schutz für Synagogen und jüdische Schulen
Das Eckcafé Orli in Hendon ist zu Fuß erreichbar und halb gefüllt. Der Gesprächspartner noch nicht da, aber an einem Tisch rührt Valerie in ihrem Cappuccino. Die 38-Jährige ist in London geboren:
"Ich fühle mich sicher hier, aber ich bin besorgt. Wegen dem was in Paris geschehen ist. Auch hier könnte etwas passieren, jederzeit, unerwartet."
Valerie hat drei Jahre in Israel gelebt und später in New York. Ein Freund starb im World Trade Center am 11. September 2001; zwei Jahre später wurden Familienmitglieder von einem Selbstmordattentäter in Israel in den Tod gerissen. Hat sie selbst schon Antisemitismus erlebt?
"Nein, ich persönlich noch nicht. Gut, manchmal, wenn man samstags zur Synagoge unterwegs ist, überholt schon mal ein Auto und jemand brüllt etwas Beleidigendes, aber nur so kleine Vorfälle."
Lockenschopf Sebastian ist zwei und das jüngste ihrer drei Kinder.
"Mein Sohn kam neulich aus der Schule und erzählte, dass sie nun üben, sich unter den Tischen zu verstecken. Für alle Fälle. Und ich habe E-Mails vom CST bekommen, dass es zusätzliche Sicherheit für die Synagoge und die Schulen gibt."
Dave Rich ist eingetroffen. Er ist Vizedirektor beim Community Security Trust – ein ruhiger Mittvierziger mit vollem Haar und ohne Kippa.
"Für uns hat Paris die Einschätzung der Bedrohung nicht verändert, sondern bestätigt. Es gibt die Bedrohung und deswegen kümmern wir uns schon seit Jahren um Sicherheit."
CST-Mitarbeiter patrouillieren durch jüdische Wohngebiete und schützen gemeinsam mit der Polizei 300 Synagogen und 120 Schulen. Und man betreibt eine Hotline, um antisemitische Vorfälle zu melden.
"Die Lage in Großbritannien ist besser als in anderen westeuropäischen Ländern. Aber natürlich gibt es Antisemitismus und Zwischenfälle."
Gesunkenes Sicherheitsempfinden seit Pariser Anschlägen
Und ihre Zahl hat sich laut neuester CST-Statistik 2014 auf über 1100 mehr als verdoppelt, ein Negativrekord, mit ausgelöst durch den Gaza-Krieg. Die Hauptaufgabe des CST aber ist es, die jüdische Gemeinde vor Terroranschlägen zu schützen.
"Dafür arbeiten wir, es Terroristen so schwer wie nur möglich zu machen, die jüdische Gemeinschaft anzugreifen."
Nur durch Zufall wurden vor drei Jahren die Pläne von Islamisten aufgedeckt, den Londoner Stadtteil Golder‘s Green anzugreifen. Friedlich reihen sich hier Bagel-Bäckereien, koschere Restaurants und Supermärkte mit hebräischen Schriftzeichen aneinander. Jossi, ein gläubiger Jude, hat seinen Sohn gerade von der Schule abgeholt.
"Ich fühle mich weniger sicher seit den Ereignissen von Paris",
gibt er zu. Jossi arbeitet in der Nähe als Verkäufer; er ist 34, verheiratet und hat vier Kinder. Hat er schon einmal an Auswanderung gedacht?
"Überhaupt nicht. Wir müssen unser Leben leben, natürlich so sicher wie möglich. Aber wir dürfen solche Ereignisse nicht unser Leben bestimmen lassen. Wir versuchen unser Bestes, aber den Rest überlassen wir Gott. Wir können die Welt nicht kontrollieren."
So ähnlich drückt es auch Betty aus, eine ältere gebeugte Dame weit jenseits der 80, die vom Einkauf kommt.
"Die Menschen sind ängstlicher jetzt, aber das hat keinen Sinn. Wir müssen einfach weitermachen. Und hier ist es besser als irgendwo anders. Ich wollte nirgendwo anders leben."