Antje Kunstmann (Hg.): "Die große Marie Marcks"

Mit Fantasie an die Macht

06:33 Minuten
Cover von "Die große Marie Marcks", herausgegeben von Antje Kunstmann.
© Kunstmann

Antje Kunstmann (Hg.)

Die große Marie MarcksKunstmann, München 2022

440 Seiten

58,00 Euro

Von Maike Albath |
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Ihre Karikaturen kannten keine Kompromisse: Marie Marcks zeichnete beißend pointiert und politisch unbeirrbar. Eine zweibändige Werkausgabe gibt nun Einblicke in das Leben der vor hundert Jahren geborenen Künstlerin.
Man kann sich nicht satt sehen an ihren Figuren: verstrubelte Haare, die Nasen eher lang, die Erwachsenen schlaksig, die Kinder voller Bewegungslust, und eine herrliche Farbgebung auf den kolorierten Zeichnungen.
Marie Marcks beherrscht die Kunst der bissigen Pointe; in ihren Karikaturen aus fünf Jahrzehnten zielt sie ebenso auf die politische Lage wie auf die privaten Verhältnisse.
Auf einem Blatt von 1981 stürmt eine Phalanx fröhlicher Frauen mit fliegenden Haaren eine Treppe hinauf. „Die bestehende Gesellschaftsordnung muss verändert werden!“, „Fantasie an die Macht“: Die Sprechblasen sind kämpferisch, aber auf der anderen Seite führt die Treppe schon wieder hinab; Männer schubsen und treten die Frauen nach unten: „Quotenregelung? Da könnt ihr lange warten!“

Undiplomatisch und unbeirrbar

Als Mutter von fünf Kindern hatte sie einen Blick für die Zwänge des Alltags: Häufig schwingen die Väter das große Wort, während die Mütter Getränke servieren und Windeln wechseln. Auf einem Cartoon hat ein Typ die Weltkugel auf dem Buckel: „Roll doch das Ding, Blödmann“, schlägt die Frau pragmatisch vor.
Die 1922 in Berlin geborene Karikaturistin, die von der Süddeutschen Zeitung über den Spiegel, den Stern, die Zeit bis zu Pardon und zur Titanic die unterschiedlichsten Blätter bediente, war außerdem eine der ersten, die Umweltschäden zum Thema machte.
Eine Spitze gegen den Chemiekonzern Hoechst, der die Verschmutzungswerte für Wasser ändern will und gleichzeitig Dreck in den Main kippt, beendete nach zwanzig Jahren gar die Zusammenarbeit mit der SZ. Die Zeitung wollte die Vignette nicht drucken, und Marie Marcks quittierte ihren Dienst. Sie war genussvoll undiplomatisch und in ihrer politischen Haltung unbeirrbar.
Zwei Bände umfasst die Prachtausgabe zum hundertsten Geburtstag der 2014 gestorbenen Zeichnerin, und neben den Karikaturen und Bildergeschichten gibt es auch eine hinreißende Autobiographie, die die Jahre zwischen 1922 und 1968 zum Gegenstand hat.

Aufgewachsen in Widersprüchen

Neben Buntstiftzeichnungen samt Texten flankieren Tagebuchnotizen, Auszüge aus Briefen und ein gemalter Reisebericht die Ausgabe. Ihr Elternhaus war unangepasst; der Vater Architekt, die Mutter betrieb eine Kunstschule, der Bildhauer Gebhardt Marcks war ihr Onkel.
Eindrücklich schildert Marie Marcks die Widersprüche, in denen eine Heranwachsende damals steckte: Der Ausnahmezustand im brennenden Berlin wirkte oft elektrisierend, gerade begonnene Liebschaften endeten mit dem Einzug in die Wehrmacht und oft auch dem Tod der Freunde, beim Arbeitsdienst herrschte ein strenges Regiment.
In der Nachkriegszeit trampte Marcks für Theateraufführungen bis nach Hamburg, die Aufbruchsstimmung riss sie mit und plötzlich schien die Welt weit und offen, aber junge Familien kämpften um ihre Existenz. Aufenthalte in den USA durch die Arbeit ihres Mannes waren Teil ihres komplizierten Weges in die Berufstätigkeit. Man kann Marie Marcks als eine phantastische Erzählerin entdecken. Ein Meilenstein für die Kunst der Bildergeschichte ist ihr Werk sowieso.
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