Antoine Wauters: "Denk an die Steine unter deinen Füßen"
Aus dem Französischen von Paul Sourzac
Secession Verlag, Berlin und Zürich 2021
160 Seiten, 22 Euro
Märchenhafte Abrechnung mit der Ausbeutung
05:51 Minuten
Elterliche Gewalt, repressive Gesellschaft: Ein Zwillingspaar rebelliert gegen die Autorität und rettet sich auf fast märchenhafte Weise. "Denk an die Steine unter deinen Füßen" von Antoine Wouters ist ein ungewöhnlicher Bildungsroman.
Antoine Wauters wurde 1981 in einem kleinen Dorf im französischsprachigen Teil Belgiens geboren. Diese ländliche Herkunft prägt seine Lyrik und Prosa. In Belgien und Frankreich findet Wauters seit einigen Jahren immer stärkere Aufmerksamkeit. Sein neues Werk, jetzt gerade auf Französisch erschienen, beschäftigt sich mit der Geschichte Syriens und ist einer der bemerkenswertesten Romane des Literaturherbstes in Frankreich.
Kritik an der Konsumgesellschaft
In Wauters' Texten geht es um existentielle Fragen wie die emotionalen Verhältnisse innerhalb einer Familie, aber auch um das Zusammenleben von Mensch und Natur. Macht und Gewalt sind fast immer ein Thema, so auch in dem Roman "Denk an die Steine unter deinen Füßen", dem ersten seiner Bücher, das nun in deutscher Übersetzung herauskommt. Darin entwirft Wauters das Szenario eines zweigeteilten fiktiven Staats, eine Art Bananenrepublik. Der Wohlstand zwischen Stadt und Land ist extrem ungleich verteilt. Ein Diktator regiert mit eiserner Hand und versucht, reiche Touristen in sein Reich zu locken. Von den Einnahmen profitiert natürlich ausschließlich die Clique der Herrschenden.
Staatliche Repression und elterliche Gewalt
Fast noch schlimmer als die staatliche Unterdrückung ist die Gewalt, die ein Elternpaar gegenüber seinen Kindern ausübt. Die Zwillinge Marcio und Léo werden gezwungen, harte Arbeit auf den Feldern zu verrichten. Für kleinste Verfehlungen werden sie brutal gezüchtigt, der Vater erweist sich als übler Schläger, die Mutter ist gleichgültig und selbstbezogen – Rabeneltern, kurz gesagt. Besonders problematisch wird die Situation, als die Kinder ihre Sexualität entdecken und beginnen, die Geschlechterrollen in Frage zu stellen. Marcio, der Junge, schminkt sich die Lippen und wäre lieber ein Mädchen. Vor allem aber lieben sich die Zwillinge und das auch körperlich. Das Tabu Inzest wird als Normalität behandelt.
Vieles bleibt nebulös und märchenhaft in Wauters' Szenario, das streckenweise an "Hänsel und Gretel" erinnert: Zwei Kinder fliehen aus dem Elend und werden wundersam gerettet. Einerseits wähnt man sich beim Lesen in nahezu mittelalterlich-feudalen Zeiten, dann wiederum sind wir in der Gegenwart mit allerlei Errungenschaften des technischen Fortschritts. Das Zwillingspaar rebelliert sowohl gegen die Fremdbestimmung durch die Eltern als auch gegen die Zurichtung der Landschaft und der in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen für die Bedürfnisse der Konsumgesellschaft.
Dem Elend entkommen
Die Stimmung in diesem Roman ist düster, geheimnisvoll und bedrohlich. Man kann ihn als Kritik an den Machtstrukturen in Familien und in der Gesellschaft lesen, als ziemlich unverblümte Abrechnung mit Ausbeutung und der psychischen und physischen Misshandlung. Die wirtschaftlich sehr unterschiedlich entwickelten Regionen des fiktiven Staates lassen sich auch symbolisch auf die gesamte Welt mit ihren globalen Ungleichgewichten übertragen.
In dem Lehrstück steckt aber ein optimistischer Zug: Der Glaube an die Fähigkeit des Individuums, sich aus den Ketten der Herkunft und politischen Umstände zu befreien. Denn am Ende gelingt es den Zwillingen, dem Elend zu entkommen, erwachsen und erfolgreich zu werden. Ein sehr ungewöhnlicher Bildungsroman.