Anton Kusters: "1078 Blue Skies / 4432 Days"
1078 Farbfotos von Anton Kusters, Texte von Jane E. Klinger, Fred Ritchin, Joan M. Walker
Kehrer Verlag, Heidelberg 2021
444 Seiten, 80 Euro
Der Himmel überall dort, wo einst ein KZ war
07:51 Minuten
Anton Kusters Großvater entkam den Nazis, Millionen andere nicht. Der Fotokünstler war jahrelang unterwegs, um an den Standorten von 1078 Konzentrationslagern den Himmel zu fotografieren. Seine Bilder erzählen von Leere, Unendlichkeit und Hoffnung.
Das Werk des 1974 geborenen belgischen Fotokünstlers Anton Kusters kreist immer wieder um ein zentrales Thema: das Trauma der Erinnerung. Seine Bilder wollen Vergangenes wachhalten, Vergessen und Verdrängen unmöglich machen.
Jetzt hat sich Anton Kusters mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandergesetzt und will mit seinen Fotos an die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern eingesperrten und ermordeten Menschen erinnern: "1078 Blue Skies / 4432 Days" nennt er sein Projekt, dessen Exponate im Holocaust Memorial Museum in Washington ausgestellt wurden und jetzt auch in einem großformatigen Buch versammelt sind.
1078 KZ, 1078 Mal blauer Himmel
1078 Mal ist im Fotoband der "blaue Himmel" zu sehen – festgehalten und dokumentiert an exakt 4432 Tagen. Die Zahlen sind erdrückend, aber sie spiegeln die fürchterliche Realität der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie wider: Zwischen 1933 und 1945 existierten 1078 Konzentrationslager, ein perfides und effizientes System aus Gefangenschaft, Zwangsarbeit und Mord.
Vom ersten bis zum letzten Tag dieses Vernichtungssystems, das Menschen wegen ihrer Religion oder Rasse, ihrer politischen Überzeugung oder sexuellen Neigungen einsperrte und ermordete, vergingen exakt 4432 Tage.
Anton Kusters ist an jeden Ort in Europa gereist, an dem sich eines dieser Lager befand, hat sich sechs Jahre lang auf Fotorecherche begeben und präsentiert für jeden einzelnen Tag des nationalsozialistischen Terrors ein Foto, auf dem man nichts sieht als einen "blauen Himmel".
Anton Kusters Großvater
Kusters wollte verstehen, was geschehen war, als 1943 die SS zum Haus seines Großvaters kam und ihn deportieren wollte. Der Großvater konnte fliehen und überlebte, aber er sprach nie von diesem Trauma, bis er starb. Es schien, als würde er sich dafür schämen, überlebt zu haben, im Gegensatz zu den vielen Millionen Menschen, die ermordet und vergessen wurden und nur als ferne Erinnerung in alten Familiengeschichten auftauchen.
Kusters beschloss, zu allen Konzentrationslager zu fahren, sich – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Bild zu machen von den Orten des Schreckens, an denen das Unsagbare geschah. Er kannte, wie wohl die meisten, nur die großen Konzentrations- und Vernichtungslager, Dachau, Auschwitz, Mauthausen.
Aber jedes große Hauptlager hatte auch temporäre Nebenlager, die heute kaum noch jemand kennt, an denen es keinerlei Spuren der Erinnerung und des Gedenkens gibt. Oft hat er dort nur einen Parkplatz oder einen Supermarkt gefunden: Wo früher Menschen eingesperrt und ermordet wurden, herrscht heute gedankenloser Konsum-Kapitalismus.
Moment der Sprachlosigkeit
Auf den Fotos, die immer nur ein einziges Motiv zeigen – den "blauen Himmel" – hat er die exakten GPS-Koordinaten der Orte vermerkt, damit niemand sagen kann, er wisse nicht, wo sie waren und wo er sie finden könne. Außerdem hat er die Opferzahlen auf den Fotos notiert. Auf manchen Fotos steht aber nur: "geschätzt" oder "unbekannt". Denn trotz intensiver Recherche ist es nicht gelungen, die genauen Zahlen zu bestimmen, jedem Opfer einen Namen und eine Lebensgeschichte, an die wir uns erinnern sollten.
Als Kusters das erste Mal die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besuchte und ihm der Schrecken der Vergangenheit, das unfassbare Leid der Menschen, die hier eingesperrt und ermordet wurden, bewusst wurde, reagierte er darauf mit Sprachlosigkeit. Er brachte nur ein einziges Foto zustande: eine verwackelte, überbelichtete Aufnahme des blauen Himmels über Auschwitz.
Diesen Moment der Sprachlosigkeit angesichts des Grauens hat er als methodischen, künstlerischen Fingerzeig empfunden und für alle anderen Orte und Fotos beibehalten, die er mit seiner Polaroid-Kamera gemacht hat, ohne technischen Schnickschnack, Belichtungsmesser und Zoom. Wir sehen immer nur einen schnellen, improvisierten Schnappschuss vom blauen Himmel, mal von Wolken verschleiert, mal im Morgen-, mal im Abendlicht, mal etwas heller, mal etwas dunkler.
Der blaue Himmel ist immer von einem kleinen, schwarzen Kranz umhüllt, als hätte ein Eingesperrter und dem Tode Geweihter einen verbotenen Blick durch das Schlüsselloch oder durch einen Spalt in der Lagerbaracke ins Freie gewagt.
Kein Foto ist wie das andere
Es sind abstrakte Bilder, sie erzählen von Leere und Unendlichkeit, von der Hoffnung, dass es ein Morgen geben könnte, ein Über- oder Weiterleben, dass da draußen noch etwas existieren möge, das an Vernunft und Humanität erinnert.
Mal ist nur ein einziges Foto auf einer Buchseite abgedruckt, mal vier, fünf oder sechs, mal auf weißem, mal auf blauem, mal auf braunem oder schwarzem Hintergrund. Und obwohl alle dasselbe Motiv haben, gleicht kein Foto dem anderen: Jedes ist so individuell, so einzigartig wie die Menschen, die an den Orten starben, an denen die Bilder gemacht wurden und die uns jetzt zwingen, darüber nachzudenken, was wir von all dem Grauen wissen, was wir unternehmen können, damit dieses Verbrechen wider die Menschlichkeit niemals in Vergessenheit gerät und sich niemals wiederholt.
Im Buch sind Drucke von Polaroid-Fotos, die schnell verwittern und sich irgendwann in nichts auflösen: ein Hinweis, wie Kusters verstanden werden will und wie er sich eine ideale Erinnerungskultur vorstellt. Die Polaroid-Fotos reflektieren das Licht, haben eine spiegelnde Oberfläche: Der Betrachter kann sich in den Fotos spiegeln und sowohl über die Bilder als auch über seine eigenen Gefühle nachdenken. Es gibt keinen erklärenden Kommentar, nur die Fotos und die nackten Zahlen, die GPS-Daten der Orte und die Opferzahlen.
Polaroids in 4432 Tagen verwittern lassen
In einem Interview hat Kusters verraten, er plane, die Polaroids an einem festen Ort zu installieren, dort Klimabedingungen zu schaffen, in denen Bilder innerhalb von 13 Jahren verwittern: Die Installation von 4432 Tagen würde genauso lange existieren wie die Zeitspanne von der Eröffnung des ersten Konzentrationslagers 1933 bis zur Schließung des letzten 1945. Das Trauma der Erinnerung muss dann jeder für sich selbst bewältigen und die Leere des Vergessens mit neuem Leben füllen.