Hier geht es zur Playlist der Sendung.
Geschliffene Diamanten
Selten wurde das Werk eines Komponisten nach dessen Tod von der nächsten Generation so begeistert aufgenommen wie das von Anton Webern. Auf ihn beriefen sich viele junge Komponisten nach 1945 – eine Entdeckung mit Folgen.
Am Anfang war Strawinsky: "Der 15. September 1945, Anton Weberns Todestag, sollte ein Trauertag für jeden aufnahmefähigen Musiker sein. Wir müssen nicht nur diesen großen Komponisten verehren, sondern auch einen wirklichen Helden. Zum völligen Misserfolg in einer tauben Welt der Unwissenheit und Gleichgültigkeit verurteilt, blieb er unerschütterlich dabei, seine Diamanten zu schleifen, seine blitzenden Diamanten, von deren Minen er eine so vollkommene Kenntnis hatte."
Immer der Reihe nach
Dieses Wort des berühmten Komponisten fand sich 1955 in einer Zeitschrift für Avantgarde-Musik, die den beziehungsreichen Titel "die reihe" trug. Igor Strawinsky, damals bereits über 70 Jahre alt, hatte mit Webern, jenem fast in Vergessenheit geratenen Schüler Arnold Schönbergs, ein Vorbild für sein eigenes Spätwerk entdeckt. Nach einer langen neoklassizistischen Schaffensphase ging Strawinsky nun zu einer hermetischen Musiksprache über – abgezirkelt, anspielungsreich und ein wenig spröde.
Und viele junge Komponisten folgten Strawinskys Beispiel, etwa Karlheinz Stockhausen oder Pierre Boulez, die sich beide ebenfalls in der Zeitschrift mit Beiträgen über Webern zu Wort meldeten. Da Boulez nicht nur als Komponist, sondern auch als Dirigent aktiv war, trug er maßgeblich zur Verbreitung von Weberns übersichtlichem Gesamtwerk bei. Bis in die 1990er Jahre hinein spielte Boulez Weberns Schaffen zwei Mal komplett ein, einige Stücke nahm er sogar noch öfter auf.
Der Konstruktivist als Romantiker
Es ist klar, dass Boulez‘ Webern-Lesarten vor allem aus der Perspektive des Komponisten stammen, der das subtil durchstrukturierte Werk musizierend analysierte. Der Platz, den der musikalische Ausdruck dabei spielte, ist im Laufe der Jahre immer größer geworden. Was in den 1960er und 70er Jahren aus Weberns Biografie bekannt wurde, veränderte das Bild nochmals grundlegend: Webern, der vermeintliche Konstruktivist, erscheint da als glühender, geradezu unverbesserlicher Romantiker. Wie eine Probe mit Webern verlaufen konnte, hat etwa der Pianist Peter Stadlen beschrieben: "Als er dabei sang und brüllte, mit den Armen wedelte und den Füßen stampfte, sich bemühend, das, was er den Inhalt der Musik nannte, zu verdeutlichen, war ich verblüfft darüber, ihn diese wenigen, fragmentarischen Noten wie Kaskaden von Klängen behandeln zu sehen."
Entdeckung nach der Entdeckung
So können wir Weberns Werk, nach den fulminanten Anfängen in der Mitte des 20. Jahrhunderts, heute nochmals neu entdecken. Diese mit zahlreichen Musikbeispielen gespickte Diskussionsrunde des "Quartetts der Kritiker" fand im Rahmen des Musikfestes Berlin statt und leitete ein Konzert des Ensemble Modern ein, das sieben Werke Weberns spielte. Auf dem Podium: Eleonore Büning und Michael Stegemann, dazu Hanspeter Krellmann, der 1975 ein biografisches Pionierwerk zu Webern vorlegte, sowie der Flötist Dietmar Wiesner, der von der Kunst, Webern zu spielen, aus der Praxis berichtet.