Antonio an der Gourmetfront

Von Karl Lotz |
Lange noch hatte der Italiener in Schwerin Sehnsucht nach seinem sonnigen Süden, aber vielleicht hielt ihn doch das spröde Mecklenburgische. Jedenfalls blieb er und gründete vor neun Monaten die "Erste Schweriner Schokoladenmanufaktur". Ein gewagtes Unterfangen – wirtschaftlich, aber vor allem wegen der doch etwas untrainierten Geschmacksnerven.
Es ist Herbst, grausiges Mecklenburger Wetter. Und es ist das Jahr 1999. Der italienische Schocolatier Antonio Lecce tritt aus dem Schweriner Hauptbahnhof, sieht die Fassaden der Häuser und denkt: Mein Gott, hier ist ja alles kaputt, da bleibst du keinen Tag. Er, der eingeladen wurde, in der Landeshauptstadt zwei Lehrlinge in seiner Kunst auszubilden. Nun lebt der Schocolatier aus Italien schon über zehn Jahre in Schwerin. Warum er blieb, ist ihm selbst ein Rätsel. Vielleicht spürte er, dass er hier angekommen ist in einer weitgehend "geschmacksfreien Zone" – und dass es seine Aufgabe werden könnte, dies zu ändern.

Der April 2009 ist der wärmste seit 1890. Alles blüht, was das Zeug hält. Die Bienen und die Besucher der Bundesgartenschau zieht es in die blühenden Gärten von Schwerin. Alle müssen besonders emsig sein, denn die süße Pracht ist bald vorbei. Auch Antonio drängte es, seine "süße Pracht", seine Liebhaberstücke aus Meisterhand zu präsentieren. Er will im Zentrum der Stadt eine Verkaufsstelle seiner Schokoladenmanufaktur eröffnen. Mehrmals hat er schon einen Anlauf unternommen, aber immer ging es schief.

Antonio: "Du, ich sehe sogar sehr gut, wie du sagst Planung und so, aber bei mir klappt nicht. Hat meine ganze Leben nicht geklappt und wird nicht klappen. Meine Frau genauso. Ich sag zu ihr, du bist deutsch. Ich nicht. Ich kann nicht planen, wenn ich plane, geht es schief. Vielleicht man schafft mehr mit Planung oder so, als ich, aber ich bin so wie die Künstler. Ich bin Künstler und ein Künstler ist so."

in Schwerin geht die Kunst zum Markt und Antonio muss den Verkauf seiner erlesenen Pralinen organisieren. Doch in letzter Zeit ging wirklich alles schief: Die angelieferten Tische für seine Schokoladenmanufaktur kamen mit verkehrten Beinen, die Getränke ohne Gläser und die Kronleuchter in letzter Sekunde. Aber am ersten Mai sollte es soweit sein.

Auf dem Marktplatz von Schwerin sitzen etwa 70 alte Kämpfer, die Reihen nicht mehr fest geschlossen, mit roter Nelke im Knopfloch. und erinnern sich vielleicht, wie sie zu DDR Zeiten noch marschieren gingen.

Doch am 1. Mai klappte es aber wieder nicht mit der Eröffnung: Die Elektroanlage fiel aus, Partner Thomas lag mit Grippe im Bett und Antonio verzweifelte, fast. Denn er stand locker und eloquent, wie man ihn immer kennt, in seiner Werkstatt und begrüßte die vorübergehenden Schweriner.

Antonio: "Tschau Bella. Die Leute gehen vorbei. Ich grüße einfach und danach kommen sie rein und kaufen was. Ich kenn viele Leute nicht. Die Blondine da. Jetzt kenn ich sie. Sie kommen hallo, hallo, hallo. Ich habe ihrer Schwester die Hochzeitstorte gemacht. So. Meine Politik ist: irgendwann kommt. Ich mach mir keinen Kopf. Irgendwann kommen sie."

"Irgendwann" hat nun geklappt. Die Kronleuchter leuchten, die Auslagen voller Köstlichkeiten und Antonio steht schick mit weißer Weste und langer schwarzer Schürze am Eisstand in seiner Schweriner Schokoladenmanufaktur. Und die Leute kommen.

Kundin: "Ich find dass toll, Schokolade macht glücklich. Da haben sie gerade die Richtigen gefragt. Ich find das so was von toll."

Antonio: "Wir versuchen so, nicht nur den grauen Himmel hier zu haben, wir versuchen hier so etwas Sonne herzubringen, das heißt, wir versuchen für viele etwas Witziges und alles. Wir versuchen viele Leute auf einen besonderen Geschmack zu bringen."

Kundin: "Es schmeckt vorzüglich. Wundervoll Das beste Eis, was ich gegessen habe. Hast du das selber gemacht? Wir kommen noch rein und kaufen Pralinen."

Antonio: "Die Freude kommt, wenn der Kunde reinkommt. Der Kunde probiert. Er guckt, was du machst und gibt dir diese Bestätigung. Auf diese Bestätigung wartest du. Egal ob eine gute oder schlechte Bestätigung. Und wenn du immer gute bekommst, das bringt dich nach vorn und willst du immer was Neues machen, deine Gäste überraschen."

Der Italiener Antonio ist in seiner Werkstatt nicht mehr allein. Unterstützt wird er von Thomas, einem geborenen Schweriner, der jetzt in der Manufaktur steht und an einer Hochzeitskutsche aus Schokolade arbeitet. Zu DDR-Zeiten war er Maschinist im Kabelwerk. Nach der Wende probierte er einige Jobs und schließlich landete er vor Antonios Fenster.

Thomas: "Ich bin immer gekommen, hab mich vor die Scheibe gestellt und hab zugeguckt. Ein zwei Stunden manchmal. Dann haben wir uns unterhalten und dann bin ich wieder gegangen. Und dann irgendwann sagt Antonio, ich hab so viel zu tun. Ich sag, wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Und so ging das los. Hab ich mal geholfen ihm was einzupacken, so dies und jenes. So kam es Schritt für Schritt. Dann hat er mich mal an die Schokolade rangelassen, so ist dann eine Freundschaft draus entstandenn."

Antonio: "Zwischen uns beiden gibt es einen Unterschied. Ich heiße Antonio und du heißt Thomas."

Wenn man beide so nebeneinander sieht, meint man poetischen Gestalten aus einem Märchenbuch zu begegnen. Antonio mit seinem zweifachen Doppelkinn sieht aus wie die Kochlegende im Film Ratatoille, die als Werbefigur über Paris thront und Thomas wie sein getreuer Eckhard.

Antonio: "Kann jeder Pralinen machen, aber wie? Das ist die Frage. Ich erzähle immer, wo sie aufpassen müssen. Was sie tun müssen, wenn etwas falsch geht. Was schief geht oder so. Es ist nicht einfach, aber kann einfach werden. Mann braucht Geduld."

Und die braucht er, wenn er die Herzen der Mecklenburger aufschließen und ihre Sinne reizen will mit Pralinen der Sorte: Traviata, Noce, oder fior de latte. Gabi Hauptmann aus dem Dorf Gottesgabe bei Schwerin hat schon in seiner Werkstatt von seinen Liebhaberstücken gekostet und jetzt steht ein kleiner Teller mit einer Kollektion seiner Pralinen vor ihrem Mann Holger und Opa Hauptmann, doch der hat seine Biografie und da findet keine Verführung statt.

Opa Hauptmann: "Ich bin, was Bonbon eigentlich anbetrifft nicht sehr groß. Ich ess selten welche, aber na ja, wenn es Spaß macht, kann man ja mal probieren. Als ich gern Bonbon gegessen habe, da war ich noch ein Kind, bloß da gab es keine. Ich bin 1935 geboren, 39 begann der Krieg und dann war es aus mit Schokolade."

Aus war es damit auch mit der Sensibilisierung der Geschmacksnerven für Pralinen. Heute soll er sich verführen lassen durch diese Köstlichkeiten.

Opa Hauptmann: "Als Kind, wenn man bloß davon hörte, dann war das schon eine große Überraschung. Aber gegessen hab ich sie wie gesagt, oder genascht, ganz wenig. Und jetzt, wo sie billig und immer und überall zu haben ist, da mag ich sie nicht mehr."

Holger: "Das sind ja auch Pralinen und keine Bonbons."

Opa Hauptmann: "Na ja, andere Formulierung."

Und auf Formulierungen wie "Noce, oder fior de latte" fällt Opa Hauptmann schon gar nicht rein. Er bleibt skeptisch, vielleicht sogar stur. Die beiden Männer schauen lustlos auf Antonios Liebhaberstücke, dann erwacht doch die Neugier und sie langen zu.

Gabi begibt sich in das Reiche der Sinne, lässt ihre Erinnerungen an einen bestimmten Geschmack auf Suche gehen.

Gabi: "Ich hab das Gefühl …. da ist Mohn drin. Experimentierfreudiger sind Frauen in dieser Hinsicht. … Ist einfach mal was anderes. Also die sind geschmacklich sehr, sehr schön."

Und woran liegt es dann, dass die Männer sich nicht überraschen lassen wollen?

Gabi: "Ich glaube, die haben es mit den Veränderungen nicht so. Es muss alles so altbewährt, so traditionell … es ist so einfach dieser Trott. Dieses Ewige … und Frauen wollen doch immer mal was Neues, Abwechslung. Und wenn es halt Schokolade ist, ist ja auch schon was."

Opa Hauptmann: "Wie meinst du das? Politisch?"

Gabi: "Nein. Es hat alles was mit Verführung zu tun."

Ja wofür ist die Praline da?

Holger: "Ja wofür ist die?"

Gabi: "Da gibt es nur ein Wort für."

Holger: "Na eigentlich denk ich mal, die Geschmacksrichtung, das ist … der Körper möchte ja auch mal was Süßes und mal … was weiß ich nicht ..."

Gabi: "Du hast den Sinn des Ganzen nicht erfasst, mein Süßer."

In Antonios Werkstatt streifen die Seminarteilnehmerinnen Gummihandschuhe über, legen Schürzen an, setzen weiße Käppis auf und warten auf Antonios Anweisungen.

Antonio: "So Mädels, aufgepasst."

Frau: "Hoffentlich hab ich eine ruhige Hand."

Antonio: "Ja wer ist da? Ja gut. Ich bin heute hier mit vier hübschen Damen da."

Frauen: "Ohh.""

Antonio: "Ja natürlich. Wo bist du? Wollen wir uns später am Nachmittag sehen. Ja. 17 Uhr bei mir. Da hab ich Zeit für dich. Jetzt eine fünfte Frau dazu, das schaff ich nicht mehr. Bis nachher. Tschau."

Antonio: "Bei mir ist einfach Freude. Bei mir ist einfach…wie soll ich sagen? Für mich … Sagen wir so. Mein Beruf ist ein Spiel für Erwachsene. Mehr kann ich leider nicht sagen. Ich spiele hier, wenn ich was mache. Ich spiele. Das ist ein Spiel für mich. Das ist auch so … ich kreiere was Besonderes, was ich mach."

Kundin: "Und vor allen Dingen, was ich so toll finde, ich kann mit dieser Mentalität besser umgehen, die er hat: Wie lange haben sie auf? Ja, solange wie wir Lust haben. Na da kommst du doch gleich ins Lachen. Es ist einfach schön, das kann ein Mecklenburger nicht. Der ist wirklich stur. Und je südlicher, je besser die Mentalität. Das finde ich einfach, ich mag das, dieses Lustige. Da kann man einen Scherz machen. Das find ich einfach schön."

Opa Hauptmann: "Wo ich scharf drauf bin? So viel ist das nicht."

Gabi: "Ein richtiges Stück Speck."

Opa Hauptmann: "Es muss nicht immer Kotelett sein. Genickbraten, oder Schulterbraten, die nachher kalt aufs Brot, das mag ich auch gern. Na ja, Rouladen ist ja auch was Besonderes. Wie gesagt, Schwein mag ich am liebsten und so wird es auch bleiben."

Der Mensch ändert sich anscheinend nur, wenn er muss, so wie man auch keinen zu einem schöneren Leben zwingen kann, aber verführen schon.

Antonio: "Wenn du sagst, ich muss. Ich muss das und das heute schaffen, ich muss morgen das und das schaffen. Irgendwann hast du keine Freude mehr auf der Arbeit, weil du musst. Dieses Muss muss nicht sein."

Wenn Antonio keinen Bock hat, dann hört er eben auf und wenn die Freude wieder da ist, dann geht es eben weiter.

Wenn Antonio arbeitet, schaut man einem Künstler zu. Mit seinen sehr kräftigen Oberarmen rührt er in der Schokolade, dann schließt er fast die Augen und er versinkt für einen Moment in eine andere Welt, wo er wahrscheinlich neue Intuitionen holt.
Antonio: "Man hört nicht auf. Man macht jeden Tag was Neues. Man macht, was weiß ich, eine Praline mit Safran/Orange und hat mit zwei Komponenten wieder was Neues kreiert."
Und dieses Neue bietet er den Kunden an, damit sie glücklich werden. Das hat natürlich seinen Preis.

Thomas: "Ich esse sehr gern und man muss immer kontrollieren Steig mal auf die Waage. Die Hose zwickt. Ich muss kürzer treten, fünf Kilo."

Thomas ist ein wenig dicker geworden, aber mit seinem erwachten Geschmacksinn kann er schon kompliziertere Variationen erkennen.

Thomas: "Zum Anfang hat man gesagt, na gut, es kommt mir bekannt vor, aber ich kann dir nicht sagen, was es ist. Es sensibilisiert sich doch ein bisschen."

Frau: "Wie hast du das gemacht?"

Antonio: "Karamell und Espresso."

Frau: "Eins zu eins?"

Antonio: "Ja kannst du auch zwei zu eins."

Frau: "Was möchtest du mehr süß oder …?"

Antonio: "Ich messe nicht, ich mach mit Gefühl."

Sein Gefühl sagte ihm vor zehn Jahren: Hau hier ab, verschwinde aus dieser Stadt, geh zurück ins warme Italien. Die grauen und kaputten Fassaden der Stadt und das triste Wetter konnte er kaum ertragen. Aber Antonio ist auch ein bodenständiger Mensch, der nicht leicht aufgibt und schon gar nicht sein Vorhaben, die Sinne der Mecklenburger zu schärfen.

Antonio: "Das ist eine Basilikumpraline. Das werden wir heute machen."

Frau: "Stark, cool. Ist das Chili?"

Antonio: "Ja Kokos mit Chili."

Frau: "Mhhh,"

Antonio: "Das ist Nougat. Das ist Balsamiko mit Erdbeere."

Frau: "Okay. Eine geile Kombination. Hab ich auch mal gemacht. Die hatte ich zu Weihnachten gemacht. Was ich im Fernsehen gesehen habe, hatte mich beeindruckt. Ziegenkäse mit Himbeere."

Antonio: "Machen wir heute."

Antonio: "Ich wollte zurück und ich bin froh, dass ich hiergeblieben, weil der erste Eindruck mit die Leute hier war für mich einfach. Ich wurde sofort von den Leuten hier, angenommen, am ersten Tag schon. Von den Schwerinern am ersten Tag schon. Und danach in dem Restaurant habe ich viele Leute kenngelernt und bin ich gelandet, wo ich jetzt bin. Wenn ich was brauche, ist immer die Tür offen."

Die Türen sind offen, also auch die zur Sehnsucht nach der Familie. Antonio versucht diese Sehnsucht durch tägliches Telefonieren mit der Familie zu lindern. Er sagt, er würde sonst krank werden, zu stark sei die Sehnsucht nach der Heimat, aus der schon seit den 50er-Jahren seine Landsleute nach Deutschland kommen. Damals waren die niederen Arbeiten zu erledigen. Heute brauchen wir die leichte Lebensart, die uns so schwer fällt.

Antonio: "Jeder Tag ist ein neuer Tag und jeden Tag man muss seine Freude haben. Ich denke, es ist egal was am Tag passiert. Das Schönste im Leben ist, man muss nicht nur geradeaus immer gehen oder gucken. Wenn man das Leben kennt, mal hoch, mal runter, in der Mitte so. Man muss dazu sagen, ich kenn das Leben. Das ist das Schönste in das Leben, weil unser Leben ist kurz, wir sind hier, heute, morgen wissen wir nicht. Wie lange wir hier sind, wissen wir auch nicht. Ich denke, man muss jeden Tag das Leben genießen."

Opa Hauptmann: "Marzipan? oder Persipan?"

Gabi: "Das ist Pistazie."

Opa Hauptmann: "Was ist das denn?"

Gabi: "Pistazie ist eine kleine, grüne Nuss, das ist so wie eine Nachspeise, was du jetzt hattest, ein bisschen cremiger, bisschen weicher."

Opa Hauptmann: "Richtig."

Gabi: "Na ist Dolce, ist Nachspeise."

Opa Hauptmann: "Ja. Wenn man mir einen Teller dahinstellt, schmecken tut's ja ganz gut, aber da ist ja noch mehr drin."