Antwort an Josef Kraus und Manfred Spitzer

Das Märchen von der digitalen Bildungskatastrophe

Letztes Jahr waren Lern-Apps das Thema auf der Bildungsmesser didacta.
Computer im Klassenzimmer? Für Josef Kraus ist das eine Gefahr. © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Von Margarete Hucht |
Tablet statt Tafel? Für den Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, ist die Digitalisierung des Klassenzimmers ein gefährlicher Irrweg. Eine Warnung, die an der Realität vorbeigehe und die Chancen moderner Medien ausblende, meint die Online-Journalistin Margarete Hucht.
Die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) will fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung der Klassenzimmer bereitstellen. Schulen, die entsprechende pädagogische Konzepte einreichen, sollen Tablets und WLAN bekommen.
Bravo, möchte man rufen. Doch die mögliche Begeisterung von Schülern, Eltern und vielleicht sogar Lehrern wird von Meinungsmachern der Altherren-Riege gleich mal fix erstickt. Josef Kraus vom Deutschen Lehrerverband etwa hält die Anschaffung von Digitalgeräten für eine fragwürdige Investition.
Josef Kraus ist studierter Gymnasiallehrer und arbeitet - seit nunmehr 37 Jahren - als Lobbyist der deutschen Lehrerschaft. Seine Mission liegt auf der Hand: Ihm geht es um die Verdammung des bösen Internets. Im Namen von 160.000 Lehrerinnen und Lehrern, die er vertritt, ruft er daher zur kollektiven Realitätsverweigerung auf.
"Schule muss die jungen Leute von der Vorstellung abhalten, mit Hilfe moderner Medien könne man sich mühelos und punktuell die gerade gebrauchten Informationen einholen", mahnte Kraus schon im vergangenen Jahr.

Neugier ausbremsen statt fördern?

Kindliche wissbegierige Neugier - so hört man bei ihm durch - muss am strammen Zügel eines Pädagogen gelenkt werden. Und der darf zwar mit Kreide an Tafel schreiben, sollte aber möglichst keinen Browser öffnen können.
Als Kraus 1949 auf die Welt kam, wurden Schreibmaschinen von Sekretärinnen bedient. Bleisatz und Papier waren Errungenschaften, die bei angemessener Nutzung durchaus eine intellektuelle Persönlichkeit heranbilden konnten. Oftmals ging das aber auch schief.
Heute wiederum tragen Kinder Informationen im Umfang von Bibliotheken mit sich herum: Ganz einfach, im Smartphone in der Hosentasche. Das ist doch mal ein Pfund!
Doch hartnäckig hält sich das Gerücht, auf Papier gedruckte Buchstaben seien mehr wert als Buchstaben, die am Bildschirm erscheinen. Als hätten Druckerpressen niemals Unfug in die Welt gesetzt.
Dabei machen Eltern heute durchaus entspannte Erfahrungen mit der Digitalisierung ihrer Kinder. Als meine Tochter lesen lernte, füllte sie mit Apps exakt die gleichen Lückentests aus, die es auch in gedruckter Form gibt - hier fehlt ein Wort, finde das richtige! Mit den Apps konnte sie Punkte sammeln und Levels erreichen. Das spornte sie an. Und überhaupt erschien ihr die Nutzung von Papas teurem iPhone - wie ihrem Vater übrigens auch - äußerst attraktiv.
In der Grundschule bekam sie von ihrer Lehrerin einen Account bei Antolin, der Plattform eines Schulbuchverlags: Wenn sie ein Kinderbuch gelesen hatte, musste sie ein paar Fragen zum Inhalt beantworten und bekam Punkte gut geschrieben. Die reichten irgendwann für eine Urkunde. So stiftet man Kinder zum Lesen an.
Für eine kleine Präsentation vor ihrer Klasse nutzen sie und ihre Mitschüler die Software OpenOffice for Kids. Mit Feuereifer kombinierte sie Bild und Text für einen kleinen Vortrag. Die Fotos kopierte sie sich im Netz zusammen, die Informationen schrieb sie bei Wikipedia ab, aber gelernt hat sie wie eine Weltmeisterin. Übrigens: Wenn sie gewollt hätte, hätte sie auch mit Pappe und Klebstoff arbeiten können, die Lehrerin überließ das den Vorlieben der Schüler.

Lernen mit Youtube

Später entdeckte das Kind die Video-Plattform Youtube und entwickelte eine Leidenschaft für die Uploads der ZDF-Serie "Frauen, die Geschichte machten". Die Leben von Kleopatra, Jeanne D’arc oder Katharina der Großen beeindruckten sie schwer. Wir Eltern mahnten sie jedoch, sie solle nicht alles glauben, was in diesen Doku-Fiktionen erzählt würde und lieber auch mal "echte" Biografien lesen.
Eigentlich, finde ich, ist die Anleitung zur Quellenkritik aber nicht nur Elternjob, sondern der eines aufgeklärten Geschichtslehrers - genau wie die Vermittlung von Wissen über Bild- und Urheberrechte selbstverständlich in den Schulkanon gehören.
Von heutigen Lehrerinnen und Lehrern erwarte ich, dass sie unsere Kinder in der digitalen Welt nicht allein lassen. Das gilt nicht zuletzt im Bereich der politischen Bildung. Wie soll eigentlich ein Unterricht in Sozialkunde aussehen, der Facebook als Plattform gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ausblendet? Und was kann Gesellschaftskunde überhaupt vermitteln, wenn sie die Unterschiede zwischen Werbung, Propaganda und seriöser Information nicht in den Blick nimmt?
Mir wird leicht schwindelig, wenn ich mir vorstelle, dass das alles in Schulen nicht vorkommt und junge Menschen in der Blase falscher und richtiger, überflüssiger und interessengeleiteter Informationen baden gehen. Das wäre die wahre Bildungskatastrophe.
Pädagogen, die das Netz als Lebenswirklichkeit von Heranwachsenden verleugnen, handeln daher aus meiner Sicht nicht nur realitätsverweigernd, sondern schlicht verantwortungslos.
Doch nicht nur Lehrer-Funktionär Josef Kraus, sondern auch der Psychiater und Autor Manfred Spitzer, stößt ins dieses Horn. Wenn Spitzer, wie gestern im Deutschlandradio Kultur behauptet, dass es auf der ganzen Welt keine sinnvollen pädagogischen Digital-Konzepte gebe, dann sollte man ihm das nicht durchgehen lassen.

Google ist kein Buch, sondern ein Inhaltsverzeichnis

Wie er ernsthaft wissenschaftlich belegen will, dass Informationen aus dem Netz schlechter verarbeitet werden als im analogen Bereich, das bleibt sein Rätsel. "Wir wissen weiterhin, dass wenn man etwas googelt, bleibt das nicht so gut hängen als wenn man es in einem Buch liest oder in der Zeitung oder in einer Zeitschrift", sagt Spitzer. Wie viele ältere Herrschaften begreift er offenbar nicht, dass Google nicht das Buch, sondern das Inhaltsverzeichnis ist.
Spitzer argumentiert aus der Sicht eines Arztes, der Onlinesüchtige behandelt – und offenbar überall Suchtgefahr wittert. Die einzig gültige Therapie gegen den suchthaften Gebrauch des Netzes ist für ihn die Abstinenz. Doch so wenig Essgestörte mit dem völligen Verzicht auf Nahrung geheilt werden können, werden Onlinesüchtige gesund, wenn man ihr Laptop wegschließt.
Nein, es gibt kein gutes und kein schlechtes Lernen. Die Lust auf Lernen, ganz gleich wo sie beginnt, gilt es zu hegen und zu pflegen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Nutzung dieses irren Internets.
Da reicht es leider nicht, wenn sich ein Lehrer die Mathearbeit im Netz besorgt, damit er sie nicht selbst entwickeln muss. Nein, Pädagogen müssen sich informieren, aufgeschlossen sein, sich selber auf den Weg machen. Mit einer kostenlosen App kommt man beispielsweise in Sekundenschnelle zur ebenfalls kostenlosen - digitalen - Nutzung der Stadtbibliothek. Hier kann man sich Bücher, Hörbücher oder Zeitschriften direkt aufs Smartphone oder Tablet ausleihen. Auch das, liebe Lehrerinnen und Lehrer, müssen Schüler heute einfach wissen!