Anwältin zur Situation auf Lesbos

Desaströse Zustände in den Elendslagern

08:00 Minuten
Das Bild zeigt einen Flüchtling mit Kind im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.
Versorgung mit Lebensmitteln "desaströs", medizinische Versorgung "katastrophal": Flüchtling mit Kind in Moria auf Lesbos. © dpa / picture alliance / ZUMAPRESS.com / Eurokinissi
Clara Anna Bünger im Gespräch mit Dieter Kassel |
Audio herunterladen
Die Anwältin Clara Anna Bünger berät Flüchtlinge im Lager Moria auf Lesbos. Die Situation dort sei schon länger nicht mehr tragbar, sagt sie - zu wenig Platz, schlechtes Essen, zwei Ärzte für 13.000 Menschen. Besonders sorgt sie sich um die unbegleiteten Minderjährigen.

Deutschland, Frankreich, Italien und Malta haben sich kürzlich grundsätzlich auf einen Verteilmechanismus für Flüchtlinge geeinigt, die auf dem Mittelmeer aus Seenot gerettet werden. Seitdem wurde an den Details gefeilt. Ein dementsprechendes Papier soll heute den EU-Innenministern vorgelegt werden. Schon vor den Beratungen hatte Bundesinnenminister Seehofer erklärt, dass Deutschland zur Aufnahme von 25 Prozent aller geretteten Bootsflüchtlinge bereit sei. Derweil warten viele tausend Flüchtlinge bereits in Aufnahme-Lagern. Zum Beispiel in Moria auf Lesbos. Clara Anna Bünger ist Rechtsanwältin und Mitbegründerin der Organisation "Equal Rights Beyond Borders". Sie leistet Rechtshilfe für Flüchtlinge auf der griechischen Insel. Ihre Schilderungen über die Zustände im Lager Moria sind erschütternd.

Dieter Kassel: Kaum hatte der deutsche Innenminister angekündigt, die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer von Nordafrika versuchen, nach Europa zu kommen, nicht mehr ihrem Schicksal oder allein privaten Hilfsorganisationen zu überlassen, richteten sich die Augen der deutschen Öffentlichkeit zu Recht wieder an eine ganz andere Ecke des Mittelmeers, nämlich in den Osten nach Griechenland. Sie erinnern sich, es ist noch nicht lange her, da hat man wieder deutlich gespürt, wie dramatisch die Lage dort in den sogenannten Hotspots ist, zum Beispiel in Moria auf der Insel Lesbos, wo bei einem Brand eine Frau mit ihrem Kind ums Leben gekommen ist und wo es gewalttätige Ausschreitungen gegeben hat.
Erst das hat viele Menschen überhaupt daran erinnert, dass es diese Lager immer noch gibt und dass sie ihren eigentlichen Zweck - nämlich ein Ort zu sein, wo Flüchtlinge aufgenommen und wo die Asylverfahren so schnell wie möglich durchgeführt werden, damit es dann weitergeht - im Grunde genommen überhaupt nicht erfüllen. Genau darüber wollen wir jetzt mit Clara Anne Bünger reden, sie kennt dieses Lager aus eigener Erfahrung, war im September vor ein paar Wochen zum letzten Mal da. Wie sind die Zustände in diesem Flüchtlingslager?
Bünger: Wenn man vor dem Lager Moria steht, dann sieht das quasi von außen aus wie ein Gefängnis, es gibt hohe Zäune, ganz viel Stacheldraht, und dieses Lager ist unterteilt in verschiedene Sektionen, in denen die Menschen dann ausharren müssen. Die werden teilweise nach Nationalitäten in Sektionen eingeteilt, aber es gibt auch Haftabschnitte in Moria. Es kommen auch sehr viele Leute an, die müssen dann in einem bestimmten Abschnitt untergebracht werden, den sie nicht verlassen dürfen. Da steht zum Beispiel ein Zelt, das eigentlich nur für 80 Personen ausgelegt ist, und teilweise müssen dort 500 bis 600 Personen ausharren, die dann sogar in Schichten schlafen müssen und nicht genug Platz haben für das Nötigste. Auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist desaströs, weil das Essen teilweise verdorben ist, und die medizinische Versorgung ist auch katastrophal, weil dort beispielsweise nur zwei offizielle Ärzte für 13.000 Menschen zuständig sind.

Die EU ist als Erfinder der Hotspots mitverantwortlich

Kassel: Hatten Sie das Gefühl, dass die zuständigen Behörden einfach nur völlig überfordert sind von diesem Andrang, oder haben Sie auch das Gefühl, die wollen es eigentlich auch nicht anders?
Bünger: Wenn man vor Ort ist und mit den Behörden spricht, sind die sich dieser Situation bewusst, und wir müssen auch mal zurückblicken, diese Situation gibt es seit über dreieinhalb Jahren, seitdem die Menschen die Inseln nicht verlassen dürfen, und diese Situation hätte man in dieser Zeit ja auch verbessern können. Die EU ist als Erfinder des EU-Hotspot-Konzepts auch dafür mitverantwortlich und hätte an dieser Stelle auch helfen können.
Kassel: Sie haben ja schon von Größenverhältnissen gesprochen. Es leben, glaube ich, inzwischen über 13.000 Menschen in diesem Lager, vorgesehen war es mal für deutlich unter 3000, aber in diesem Dorf – Moria ist der Name des Dorfes, neben dem sich dieses Lager befindet – leben ungefähr 1000 Einwohner. Ich hatte in der Vergangenheit immer das Gefühl aus der Ferne, dass die Einwohner eigentlich großes Verständnis haben für die Flüchtlinge. Ändert sich das langsam?
Bünger: Die Einwohnerinnen und Einwohner hatten sehr großes Verständnis für die Personen und haben sie, glaube ich, auch immer noch, aber sie sind auch von der Situation frustriert, dass sich nichts daran ändert, die Menschen können ja nicht in wilden Lagern, in Olivenhainen übernachten ohne eine Behausung. Wenn es jetzt wie in den letzten Tagen zum Beispiel starken Regen gibt, dann schwimmen auch diese Zelte, die in diesen Olivenhainen aufgestellt werden, einfach weg, mit den Leuten zusammen, und das sind Zustände, die die Leute vor Ort nicht hinnehmen wollen.
Kassel: Die Grundidee dieser Hotspots ist ja, Griechenland übernimmt eine Aufgabe im Rahmen der EU-Mitgliedschaft. Was tut denn die EU überhaupt konkret?
Bünger: Dieses Hotspot-Konzept ist quasi Grundlage dafür, dass die Personen dort vor Ort in diesen Lagern eigentlich nur ankommen, schnelle Asylverfahren stattfinden und dann wieder verteilt werden, und das hat in dieser Form aber nie stattgefunden, die Verfahren dauern sehr lange, die Leute sind dort teilweise Monate bis hin zu Jahren in diesen Lagern. Dann muss man auch sich eingestehen, dass dieses Konzept so nicht funktioniert. Dann muss man eine alternative Lösung dafür finden. So wie das jetzt seit über dreieinhalb Jahren abläuft, kann das natürlich nicht weitergehen.

Der einzige Ausweg aus den Elendslagern

Kassel: Was Sie tun ist, Rechtsberatung anzubieten, kostenlose, für Flüchtlinge und Menschen, die in diesen Asylverfahren stecken – können Sie da überhaupt wirklich helfen?
Bünger: Vor Ort unterstützen wir in der allgemeinen Asylverfahrensberatung, und gleichzeitig machen wir auch strategische Prozessführung im Bereich Familienzusammenführung, bei Personen, die enge Familienangehörige haben, kann unter Umständen ein anderer Mitgliedsstaat zuständig sein. Das ist häufig auch der einzige Ausweg für Menschen raus aus diesen Elendslagern.
Kassel: Wir reden ja im Grunde genommen über etwas, was mit dem EU-Innenministertreffen in Luxemburg nichts zu tun hat, da geht es ja um Flüchtlinge, die über eine andere Route in einer anderen Situation versuchen, nach Europa zu kommen, aber wenn Sie sehen, wie schwierig das schon ist, da reden wir, wenn überhaupt, vielleicht im Moment von ein paar hundert Menschen pro Land. Haben Sie denn überhaupt eine Hoffnung, dass diese Zehntausenden, die in Griechenland warten, dass die je darauf hoffen können, dass die EU sich einigt, wer sie wo wann aufnimmt?
Bünger: Also das bleibt natürlich zu hoffen, dass die EU da eine Lösung findet, weil die Situation, wie sie sich jetzt darstellt, ist natürlich nicht tragbar. Deshalb haben wir zum Beispiel auch gemeinsam mit 18 anderen Organisationen einen Appell an die Bundesregierung gerichtet, in dem wir konkret dazu auffordern, dass sie gerade unbegleitete Minderjährige aufnehmen aus den Lagern, aber auch diese Familienzusammenführungen, dass sie da quasi humanitär handeln und von ihrem Ermessen, Wohlwollen Gebrauch machen und so Personen raus aus diesen Elendslagern kommen können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema