Anzeichen eines neuen Rechtsverständnisses

Von Gert Loschütz |
Im Herbst 1991 war ich in New York und schaute mir jeden Nachmittag im Fernsehen das Hearing an, dem sich der schwarze Richter und Rechtsgelehrte Clarence Thomas vor seiner Berufung in den Supreme Court der Vereinigten Staaten unterziehen musste.
Er saß vor einem langen Tisch, hinter dem sechs Senatoren thronten, die ihm Fragen stellten, darunter Edward Kennedy und Joe Biden, der jetzige Vizepräsident. An einem der Tage war Anita Hill geladen, eine frühere Assistentin von Thomas, die ihn der sexuellen Belästigung bezichtigte. Ihre Geschichte ging seit Wochen durch die Presse. An dem Tag, an dem sie ihre Aussage machte, erschien Thomas mit seiner Frau, die in einer der vorderen Reihen Platz nahm. Während Anita Hill unter dem Druck der Befragung immer weiter ins Detail ging, bis am Ende keiner der unter der Gürtellinie liegenden Körperteile unbenannt blieb, lächelte die Frau des Richters tapfer in die Kamera.

An dieses schamlose, landesweit in jedes Wohnzimmer ausgestrahlte Spektakel dachte ich, als ich las, Polanski habe das nach seiner Flucht ergangene Angebot einer Verurteilung auf Bewährung ausgeschlagen, da es mit der Bedingung verknüpft war, nach Los Angeles zurückzukehren und der Fernsehübertragung der Urteilsverkündung zuzustimmen. Das war 1978.

Seither hat die Gefräßigkeit der Medien, die in den USA jeden Prominenten verschlingt, der bei einer Affäre ertappt wird, des Ehebruchs verdächtig ist oder im Geruch der sexuellen Andersartigkeit steht, nicht ab-, sondern zugenommen. Umso bemerkenswerter ist die Sachlichkeit, mit der die deutsche Presse über den Fall Polanski berichtet hat. Die seriösen Zeitungen verzichteten auf jede Inszenierung des Skandals und beschränkten sich weitgehend auf die Präsentation der nicht einfachen Faktenlage.

Vor allem aber widerstanden die zahlreichen Freunde Polanskis, die sich zu Wort gemeldet haben, der Versuchung, die Tat kleinzureden oder sie gar durch dessen Künstlertum zu erklären. Das ist, bedenkt man, dass es Jahrhunderte lang zum Bild des Genies gehörte, sich als außerhalb der bürgerlichen Moral stehend zu begreifen, weniger selbstverständlich, als man meinen sollte. Auch gab es keinen, der die Opfer-Täter-Rollen zu verkehren suchte, indem er etwa die 13-Jährige unter Hinweis auf ihre Frühentwicklung als die Verführerin hinstellte, auch dies ein beliebter Entschuldungstrick.

Die Verantwortung Polanskis wurde von niemandem bestritten, die Strafwürdigkeit seiner Handlung – auch wenn man aus unterschiedlichen Gründen wünschte, er möge von der Haft verschont bleiben – von keinem in Frage gestellt. Das gilt es festzuhalten, weil es zeigt, dass sich in den letzten Jahren ein Rechtsverständnis durchgesetzt hat, das zur Zeit, in der Polanski schuldig wurde, keineswegs verbindlich war.

Im Gegenteil, mit der sexuellen Revolution der 68er, die das Individuum von der repressiven Sexualmoral der Eltern und Voreltern befreien wollte, wurden auch einige der Bastionen geschliffen, die nicht nur den Erwachsenen, sondern auch den Kindern Schutz geboten hatten. Die Befreiung der Sexualität schloss die der Kinder ausdrücklich ein, was nicht heißt, dass sie zum Freiwild erklärt wurden, das nicht, aber unbestritten ist, dass die Vorstellung von der befreiten Sexualität zur Verwischung der Grenzen beitrug, die zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem gezogen sind.

Dass die Grenzen neu bestimmt wurden, ist vor allem der immer wieder aufbrandenden Diskussion über die Gewalt gegen Kinder zu danken, mit ihrer vielleicht widerlichsten Abart: der Kinderpornografie und des Kindesmissbrauchs. Dass es beides gab, wusste man immer, aber erst durch die rasche Verfügbarkeit der Bilder im Internet ist das Problem so ins öffentliche Bewusstsein gerückt, dass sich die Täter einer breiten gesellschaftlichen Ächtung gegenüber sehen. Dass damit auch eine Veränderung des Kunstbegriffs einhergeht, zeigt sich daran, dass erst vor ein paar Tagen ein Saal in der Londoner Tate Modern geschlossen wurde, weil in ihm ein Aktbild der zehnjährigen Brooke Shields ausgestellt war, dem kindlichen Star von Louis Malles Meisterwerk "Pretty Baby", das 1977 in die Kinos kam. Mag sein, dass der Film heute so nicht mehr gedreht werden könnte.

Gert Loschütz, Schriftsteller, geboren 1946 in Genthin (Sachsen-Anhalt). 1957 Übersiedlung mit den Eltern nach Dillenburg (Hessen). Von 1966 an Studium an der FU Berlin, daneben Arbeit als Verlagslektor. Seit 1970 freier Schriftsteller. Lebt in Berlin. Mitglied des P.E.N. und der Akademie für Darstellende Künste der Deutschen Schillerstiftung. Viele Hörspiele, Theaterstücke, Fernsehspiele und Bücher (u. a.): "Eine wahnsinnige Liebe. Novelle", 1984; "Das Pfennig-Mal. Die Geschichte von Tom Courteys Ehre und Benjamin Walz Schande", Erzählung ,1987; "Flucht. Roman", 1990; "Lassen Sie mich, bevor ich weiter muß, von drei Frauen erzählen", Geschichten, 1990; "Unterwegs zu den Geschichten. Erzählungen", 1990. "Dunkle Gesellschaft. Roman", 2005; "Die Bedrohung", 2006.
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