"Anziehung und Abstoßung zugleich"

Moderation: Susanne Führer |
Filz, Fett und Visionen: Vor 90 Jahren wurde Joseph Beuys geboren. Warum seine Kunst und seine Persönlichkeit so viele Menschen fasziniert haben, erklärt der Sammler und Verleger Lothar Schirmer.
Susanne Führer: Heute wäre er 90 Jahre alt geworden, Joseph Beuys, einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Der Mann in Hut und Mantel, wie auch sein Werk faszinieren ja bis heute das Publikum. Was für ein Mensch steckte unter dem Filz? Was hat es mit dem Fett auf sich? Und wie wichtig waren Beuys eigentlich seine Visionen? Darüber spreche ich nun mit dem Beuys-Sammler und Beuys-Verleger, der gerade zwei neue Bücher über Beuys herausgebracht hat, mit Lothar Schirmer nämlich. Schönen guten Morgen, Herr Schirmer!

Lothar Schirmer: Grüß Gott, Frau Führer!

Führer: Wie ist das eigentlich mit Ihnen, sind Sie heute noch – nach diesen vielen Jahrzehnten, die Sie mit dem Beuys’schen Werk vertraut sind – fasziniert davon?

Schirmer: Ja, das ist ja, wie als würde man Wagnerianer, das bleibt man eigentlich, weil es ja ein ganzes Denkgebäude und ein Gebäude sinnlicher Erfahrung ist, das sehr raffiniert zusammengesetzt ist, und da müsste man schon was besseres finden, um es zu verlassen. Ich denke, ich bin der Sache oder dem Beuys 1965 begegnet – ich habe bis heute noch nichts besseres gefunden.

Führer: Sie haben mit 19 Jahren dieses Denkgebäude zum ersten Mal betreten, das haben Sie mal erzählt auf der Documenta 1964, da haben Sie Beuys’ Werke entdeckt. Welche Werke waren das und warum haben die Sie so angesprochen?

Schirmer: Na ja, das war zunächst mal ganz seltsam. Es gab also zwei Ausstellungsblöcke auf der Documenta: Das eine war eine Ausstellung mit modernen Handzeichnungen, das war so Mitte des 19. Jahrhunderts, also sagen wir mal Victor Hugo, Henri Toulouse-Lautrec bis wie gesagt zu Joseph Beuys. Der war damals relativ unbekannt, und ich war jung und versuchte einen Überblick über die Phänomene der Kunst zu bekommen und war da sehr elektrisiert, als ich da einen neuen Namen sah, mit solchen wirklich spirituellen und formal sehr nervösen Zeichnungen, die Sujets zeigten, die damals völlig verpönt waren. Das war der "Mann auf Skelett", oder das andere hieß "Hirsch im Gebirge". Das war …

Führer: Also, das war sowohl das Sujet wie auch die Art der Darstellung.

Schirmer: Ja, es war sowohl das Sujet wie auch die Art der Darstellung. Aber es war vor allem die Art der Darstellung, weil in dieser Art der Darstellung hätte auch alles dargestellt werden können. Was mich nur gewundert hat, war, dass – wir waren ja '64 noch so auf der Höhe der abklingenden Abstraktion, und der Hirsch war natürlich, sagen wir mal, in der Ikonografie oder als Thema von Kunst richtig ein versautes Thema.

Führer: Also, versaut in dem Sinne, das war vollkommen indiskutabel …

Schirmer: Ja, völlig, also …

Führer: … so was machte man nicht mehr.

Schirmer: … es war in den Kitsch hinabgesunken. Und da war jemand, der zeichnete Hirsche, das war schon mal sehr komisch, es deutete auf eine gewisse - wenn ich es mal vorsichtig ausdrücken darf - Exzentrizität oder aber auf ein Sendungsbewusstsein, dass man sich von den allgemeinen Urteilen oder Fehlurteilen oder von dem allgemeinen Missbrauch nicht beeinflussen lassen wollte. Und dann gab es eine andere Rubrik in der Ausstellung, die hieß Aspekte, da hatte der damalige Documenta-Rat alles so zusammengekehrt, was – also irgendwelche Documenta-Ratsmitglieder vorgeschlagen haben, auf die keine Mehrheitsmeinung sich einigen konnte, aber die man auch nicht rausschmeißen wollte, und da gab es zum Beispiel Gemälde von Paul Wunderlich und ein Objektgemälde oder ein Combinepainting von Robert Rauschenberg, und in irgendeiner Ecke stand eine kleine Küchenvitrine, da waren drei Wachsskulpturen, drei Bienenköniginnen drin von Joseph Beuys. Und ich war wirklich verblüfft, das war unappetitlich, und ich bin eigentlich dran vorbeigegangen, habe aber im letzten Moment noch das Etikett gelesen, und dann stand wieder: "Joseph Beuys, Bienenkönigin eins, Bienenkönigin zwei, Bienenkönigin drei". Dann habe ich gedacht: Verdammt, das kann doch nicht sein, dass da so etwas war von einem Künstler, das dich so begeistert hat, und hier so etwas, was dich so abstößt.

Führer: Also, Anziehung und Abstoßung zugleich.

Schirmer: Anziehung und Abstoßung zugleich. Als ich dann sechs Wochen später mir den Katalog noch mal durchsah zuhause und ich überlegte, was ich denn gesehen hatte, dann habe ich gesagt: Eigentlich ist das beunruhigendste, was mir da zuteil geworden ist, war dieses Phänomen dieses Künstlers, den ich bis dahin nicht kannte, der einerseits so Sachen machte, auf die ich so flog, und andererseits Sachen, die mich so völlig ekelten.

Führer: Sie waren 19 Jahre alt damals, da sollte man noch mal dran erinnern. Sie haben ihn dann auch kurz nach der Documenta kennengelernt und haben dann auch schon ihre ersten Beuys-Zeichnungen gekauft, also haben mit 19 schon angefangen Beuys zu sammeln – wirklich Chapeau vor diesem Weitblick! Wo wir gerade bei den Anekdoten sind, Herr Schirmer, Sie müssen uns unbedingt die Geschichte von der Beuys’schen Badewanne erzählen. Es gab diese Kinderbadewanne, der Beuys hat die verziert mit Heftpflaster und Draht und Dreck und Fett, und Sie haben gesagt: Hm, gefällt mir noch nicht, aber wird mir gehen wie mit der Bienenkönigin?

Schirmer: Ja, ich habe gesagt …

Führer: … erwerbe ich?

Schirmer: … es ist exzentrisch, weise ich nicht zurück, sagen wir mal so!

Führer: Genau!

Schirmer: Und dann gab es einen Ausstellungsplan, da wollten drei Museen Joseph Beuys, Andy Warhol und Marcel Duchamps vorstellen in einem Thema, das hieß Realität, Realismus oder Realität, Realismus, Realität. Das war das Ausstellungsthema, und da wollten sie die Badewanne haben, und da habe ich sie ihnen ausgeliehen. Und irgendwie ist es dann passiert, dass in einer dieser Ausstellungsstationen – ich glaube, es war Leverkusen – war diese Badewanne in einem Depot gelagert, wo auch Stühle standen einer Veranstaltung …

Führer: … der Sozialdemokraten …

Schirmer: Ja, es hätte jede andere Partei auch sein können, nehme ich mal an. Es war jedenfalls der SPD-Ortsverein Leverkusen-Alkenrath, der sein Sommerfest im Schloss Morsbroich im Museum feierte, und die hatten die Stühle für die Veranstaltung im Museumsdepot gelagert. Und dann, im Laufe der Feierstunde, sagte dann einer: Das Bier ist zu kalt, lass es uns rasch kaltstellen, und da …

Führer: … das Bier ist zu warm.

Schirmer: … Bier zu warm, ja, lass uns kaltstellen, und dann sagte einer: aber wo? Und der andere hat dann gesagt: Weißt du, ich habe was gesehen, und dann, da ist so eine Badewanne im Depot. Und dann haben die die Badewanne aus dem Depot geholt und haben die erst mal sauber gemacht, also alles, was der Beuys dran gemacht hat, haben sie zielstrebig entfernt, dann ist, glaube ich, der Museumswärter gekommen, um Gottes willen, macht das nicht, das ist Kunst, und dann haben sie es wieder weggeräumt. Der Schaden war dann eingetreten, zum Bierkühlen ist es offensichtlich nicht mehr gekommen und das war es dann. Das war der Anfang! Dann ist es allerdings noch unerfreulicher weitergegangen, weil die Museumsleitung mir das Objekt dann ohne Kommentar nach Ende der Ausstellung ins Haus geschickt hat …

Führer: … gereinigt?

Schirmer: … gereinigt, also jedenfalls von Beuys’ Zutaten gereinigt, und ich hatte plötzliche eine aus dem Trödelladen stammende alte Badewanne.

Führer: Herr Schirmer, wie hat denn Joseph Beuys eigentlich reagiert?

Schirmer: (...) Als er dann mal in München war, hat er sie in einer Nachtaktion wieder nach Fotos hergestellt. Ich musste also Margarine kaufen und Mullbinden und Pflaster verschiedener Farben, und da es ein Farbpflaster, ein farbiges Pflaster nicht mehr gab, hat er diese Pflastersorte mit Malerei, also mit Emaillefarbe eingefärbt. Da ist noch Malerei dazugekommen, sozusagen.

Führer: Lothar Schirmer, Verleger und Kunstsammler im Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über Joseph Beuys, der heute 90 Jahre alt geworden wäre. Er hat ja auch diesen schönen Satz gesagt: Jeder Mensch ist ein Künstler, meinte damit natürlich ein schöpferisches Wesen, und potenziell ein Künstler – das ist ja auch eine politische Aussage. Wie weit hat eigentlich sozusagen sein politisches Credo auch sein Handeln bestimmt?

Schirmer: Er war natürlich von irgendeinem Punkt – ich glaube, den kann man relativ genau auf das Jahr 1971 legen – war er vielleicht nicht mehr unbedingt interessiert, durch Skulpturen oder sagen wir, durch Kunstwerke die Menschheit zu erreichen, sondern er wollte sie eigentlich direkt ansprechen, und hat also seine Ideen, die sicherlich tief in der Anthroposophie verwurzelt sind, versucht, in Sprache zu fassen. Es war sehr amüsant, ihm immer zuzuhören. Ich will auch gern zugeben, dass, wenn mich seine Kunst nicht so beeindruckt hätte, vorher beeindruckt hätte, dann hätte ich mich für die Verbalisierung der dahinter liegenden Gedanken nicht so sonderlich interessiert.

Führer: Ich glaube, die breite Masse hat das ja eher andersrum kennengelernt, also Beuys so als Figur, mit Hut und Mantel, war ja sozusagen auch ein Kunstwerk seiner selbst, und ist ja mindestens so bekannt wie sein Werk. Kann man das eigentlich überhaupt trennen?

Schirmer: Na ja, sagen wir mal, in meiner Vita hat sich das automatisch getrennt, weil ich habe ihn seiner Kunst wegen aufgesucht. Und später kamen Leute, die ihn natürlich wegen seiner Prominenz aufgesucht haben oder seiner Berühmtheit. Das hat er aber auch billigend in Kauf genommen. Er hat es sogar genossen, würde ich mal sagen, und am Schluss war er eigentlich dran interessiert, seine Ideen schneller, als es durch die Kunst möglich war, unter die Menschen zu bringen, und da kommt der ganze politische Komplex rein, aber das Menschenbild war sehr großzügig. Es basierte darauf, dass jeder ein künstlerisches Potenzial hätte, dass jede Tätigkeit künstlerisch ausgeführt werden könnte, also vom Kartoffelschälen bis zum Kindererziehen, dass es nicht drauf ankam, irgendwelche Marmorskulpturen kunstvoll aus Stein zu schlagen – das konnte auch nicht schaden, wenn man das konnte, aber de facto ging es ihm darum nicht.

Führer: Und er war auch großzügig als Person?

Schirmer: Also sagen wir mal, er war als Person sehr großzügig. Und ich will noch eine kleine Anekdote über seinen Realismus, der ihn getrieben hat – bei aller provokant klingenden Abgehobenheit –: Es gab dann immer im Freundeskreis, klagten die einen über den anderen, kann man sich ja vorstellen, und dann hörte er sich das alles geduldig an und nickte und sagte: Ja, du hast recht, der ist so, ja schrecklich, er ist so geizig, er macht das und dies. Und dann am Schluss zog er einfach einen Strich drunter und sagte: Ja, aber ich muss mit ihm zusammenarbeiten, ich will auch mit ihm zusammenarbeiten, denn es gibt keinen besseren Menschen.

Führer: Sagt der Verleger und Sammler Lothar Schirmer. In seinem Verlag "Schirmer/Mosel" sind gerade zwei neue Beuys-Bücher erschienen: " ich selbst die Iphigenie " heißt das eine, und "eine farbige Welt" das andere. Danke für das Gespräch, Herr Schirmer!


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