Apokalyptische Bilder

Die große Leere verwaister Städte

04:07 Minuten
Leere Straßen am 17.03.2020 in Frankreich, Paris.
Paris am 17. März 2020 - dort, wo sich sonst Menschen tummeln, sind nun Straßen und Plätze vereinsamt. © picture alliance/Michael Bunel/Le Pictorium/MAXPPP/dpa
Von Marietta Schwarz |
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Es ist ruhig geworden: Die Corona-Gefahr verwandelt Städte in leere Kulissen. Wie das aussieht, hat die „New York Times“ in der Bilderserie „The Great Empty“ festgehalten. Ein irritierender Anblick, meint Marietta Schwarz – aber irgendwie schön.
Paris in grau. Die Place de la Concorde menschenleer. Der Times Square in New York ist immer noch bunt. Aber die Leuchtreklame blinkt irgendwie einsam vor sich hin, da ist niemand auf der nassen Straße.
Auf den Ramblas in Barcelona suchen Tauben am Boden nach den letzten verwertbaren Spuren der Passanten, die nicht mehr anwesend sind. Und in Sao Paulo der nächtliche Blick ins Private: Menschen eingesperrt hinter einer monotonen Glasfassade.

Wie Kulissen in einem Film

Man denkt sofort an Filme: "Playtime" von Jacques Tati. "Lost in Translation". Und müsste auf der Spanischen Treppe jetzt nicht gleich Audrey Hepburn mit Gregory Peck auftauchen? Sind das nicht alles Kulissen, die für den großen Auftritt bereitstehen? Wann kommt der? Wann setzt das städtische Leben wieder ein?
Die "New York Times" verweist in ihrem kurzen Text zur Bildstrecke "The Great Empty" auf den Ursprung des städtischen Raums, nämlich die Erfindung der Agora im antiken Griechenland.
Die Agora, Versammlungsort, Ort der menschlichen Interaktion, des Handels, der politischen Meinungsbildung, Ort der Begegnung, an dem der Bürger sich vergnügt und genießt. 2000 Jahre später hat sich an dieser Funktion trotz Internet nichts verändert.
Immer noch werden hier politische Umbrüche gemacht, Marathons gelaufen, Straßenfeste gefeiert, gegen den Klimawandel demonstriert. Immer noch suchen wir Restaurants und Cafés auf, gehen ins Museum, ins Kino und Theater, besichtigen eine Kirche.

Leere reißt uns aus Abstumpfung

Was bleibt von der Stadt, wenn sie nicht belebt wird? Wenn ihre Akteure Sicherheitsabstand halten müssen oder sich am besten ganz zurückziehen?
Die Großstadt, so hat es der Philosoph und Soziologe Georg Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert, führe zur "Steigerung des Nervenlebens". Der Mensch, so Simmel, sei ein "Unterschiedswesen", sein Bewusstsein werde durch den Unterschied des augenblicklichen Eindrucks gegen den vorhergehenden angeregt.
Man könnte es auch Reizüberflutung nennen, die wir, so Simmel, nur mit dem bewussten Einsatz des Verstandes aushalten. Ohne Abstumpfung kein Überleben in der Großstadt.

Neue Blickwinkel

Die leere Stadt reißt uns aus dieser Abstumpfung heraus. Wo die Menschen fehlen, sehen wir plötzlich anderes.
Da ist diese historische Fassade. Diese Sitze in der U-Bahn-Station aus Metallgitter. Da sind am Strand von Santa Monica einfach nur Schatten von Wolken im Sand. Da ist diese Fahrbahnmarkierung, die siebenspurige Autobahn ohne Fahrzeuge. Und immer wieder Mobiliar für den reibungslosen Ablauf unseres städtischen Alltags: Parkuhren, Straßenlaternen, Fahrradständer. Jetzt außer Funktion.
Das ist irritierend, das ist irgendwie schön, das erfüllt gerade in den touristisch übernutzten Orten auch eine Sehnsucht nach Selfiestick-freien Zonen, nach Ruhe.

Nur eine Hülle bleibt

Und doch ist das, was bleibt, nur eine Hülle, eine gewaltige Maschinerie ohne Strom, ein Korpus, in dem kein Blut mehr fließt. Die Stadt, dieser Organismus einer hochentwickelten Gesellschaft, die Stadt als Handelsumschlagplatz, als Ort des Miteinander, hat vorübergehend ihre wichtigste Funktion verloren.
Es bleibt uns überlassen, was wir in den Bildern der verwaisten Stadträume lesen: Die Schönheit der Leere, die apokalyptische Endzeitstimmung oder einfach nur eine einzigartige Momentaufnahme. Ausgang offen.
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