Virtuelle Disco für Besserverdienende
Das Internetportal Boiler Room streamt DJ-Sets und Konzerte in die ganze Welt – inzwischen auch aus Kuala Lumpur und Neu Delhi, Georgien – und natürlich London und Berlin. In Zusammenarbeit mit Google will man jetzt die Clubkultur als Virtual-Reality-Erlebnis erfahrbar machen - in einer App. Die lässt sich aber nur mit relativ teurer Technik genießen.
Als Techno in Berlin wie ein Vulkan losbrach nach dem Mauerfall, da lag das auch an den vielen tollen Räumen im Osten, die plötzlich brachlagen. Und auch wenn seit 20 Jahren die Spaßkultur, die Tourismusbranche und die Werbeindustrie daran herumgesaugt haben, verfügt das Leben in den Clubs kurioserweise immer noch über eine Subkultur, die sich permanent entwickelt und verändert – genau wie die meist elektronische Musik, die dort gespielt wird. Und das ist, wo der Londoner Boiler Room einsetzt und Michail Stangl, der Boiler-Room-Deutschlanddirektor und Veteran der Berliner Clubszene:
"Boiler Room sollte man viel weniger als einen Party-Broadcast betrachten als vielmehr eine Schnappschußaufnahme von sozialer Struktur und Möglichkeiten..."
Im Anfang des Boiler Room, 2010, gab es eine schlichte Webcam, die das Bild des DJs und der Party zum Ton aus dem Mischpult ins Netz strahlte. Inzwischen gibt es 360-Grad-Aufnahmen, mehrere HD-Kameras und eine professionelle Postproduktion, so dass man auch von Nahem mitkriegt, wie sich der DJ zwischendurch am Bart kratzt – gut sichtbar für eine Fangemeinde weit verstreut über die Welt vor den Rechnern.
"Viele Leute, die Teil unserer Community sind, leben in Orten und Ländern, wo es keine Club-Infrastruktur gibt, wo sie nicht einfach jedes Wochenende auf 180, 200, 300 verschiedene Partys theoretisch gehen können, sondern für sie ist der Zugang durch das Internet die einzige Möglichkeit, an dieser Kultur zu partizipieren."
Und zwar an der ganzen Bandbreite des musikalischen Kontinuums elektronischer Musik – nicht museal, sondern mit dem Ohr und dem Bauch an den Plattentellern der Welt.
Auf Partys "authentische Berliner Raver" gecastet
Natürlich muss eine Internetplattform, zumal wenn sie im Konkurrenzkampf der Unterhaltungssoziotope ganz weit vorn steht, ihr Angebot ständig verbessern: Und das neueste Schwein, das durch das technologische Dorf getrieben wird, heißt eben Virtual Reality – VR! In Museen und immersiven Games hat VR bereits Einzug gehalten und in experimentellen Theaterproduktionen, und mit Boiler Room dann jetzt auch im Video-Musikstreaming.
"Virtual Reality ist ja nichts anderes, als eine noch emotionalere, intensivere und umfassendere Art, Clubkultur zu erleben."
Und tatsächlich ist die räumliche Anwesenheit im Geschehen (von der Wirklichkeit, in der man sich tatsächlich gerade aufhält, abgeschirmt vom flauschigen Daydream-Headset und schalldichten Kopfhörern) verblüffend: zum Greifen nahe direkt vor den drei Musikern des Technotrios FJAAK, die an ihren analogen Soundgeräten rumschrauben, und direkt dahinter die glaubhaft freudig herumhüpfenden jungen Menschen, die sich antanzen und lachen und sich im Raum wiegen und schütteln, man kann die fast riechen, meint man...
"Das sind alles junge Leute, die ich zusammengecastet habe von den Partys, die ich selber besuche, die bei Boiler Room zu Besuch waren, und das sind alles authetische Berliner Raver."
Und man guckt nach links und rechts in dem zigarrenkistengroßen Headset, nach oben und unten, und fängt selbst an zu tanzen – wenn erst mal das anfängliche Bedürfnis aufhört, sich an der Wand abzustützen, weil einen der Raum vor den Augen in sich hineinzoomt, obwohl man vom Körpergefühl her ganz woanders steht. Aber der immersive Effekt, der einen in die Tanzparty reinzieht, ist ziemlich hypnotisch.
Natürlich kann man sich in diesem Raum, den man räumlich wahrnimmt, nicht wirklich frei bewegen, dafür hätte es einer kompletten Nachmodellierung des gefilmten Materials aus der Berliner Arena in 3D gebraucht. Aber mit dem Controller des Headsets kann man mit der Kameraperspektive auswählen, wo man sich umgucken will:
"Chillout Area, Dancefloor, dann so weiter hinten, wo die ganzen seltsamen Leute abhängen..."
Ganz hinten gibt es sogar noch eine Kunstinstallation aus Video- und Fernsehbildschirmen.
Aufwändig produzierte virtuelle Realität
Was nun wie ein authentisches Eintauchen in den Club aussieht, ist bei Virtual Reality in Wirklichkeit eine aufwändige Produktion: 250 Leute haben fünf Monate an dem gerade mal 15 Minuten langen VR-Filmchen "Techno In Berlin" vom Boiler Room gearbeitet, allein die Postproduktion dieser Viertelstunde dauerte sechs Wochen, 70 Terrabyte an Videodaten mussten verarbeitet werden. Die technische Hürde bei VR ist jedenfalls sehr hoch.
"Dementsprechend war das ehrlich gesagt sehr gut, dass wir mit einem Partner wie Google, die ja eine Plattform für Virtual Reality aufgebaut, dementsprechend auch das Knowhow haben wie kaum jemand anderes, produziert und auch vervielfältigt und an den Mann bringt, war für uns sehr wichtig."
Nun war das Angebot von Boiler Room immer kostenfrei zugänglich, worauf das Kollektiv auch betont stolz ist - weshalb einige Skeptiker jetzt darauf verweisen, dass dieses neue VR-Erlebnis des Boiler Room bislang nur auf dem teuren Google-Pixel-Smartphone und, mit Genuss, dem Daydream-Headset zu sehen ist - also Virtuelle Disco nur für Besserverdienende. Aber wenn diese Technologie dann erst im Consumermarkt angekommen ist, purzeln erfahrungsgemäß die Preise, und die Technik wird anwenderfreundlicher.
"Wenn es technisch einfacher werden wird, wollen wir viel, viel mehr VR produzieren, und ich hoffe, dass auch viel mehr Leute das produzieren wollen. Momentan ist das... - ich würde nicht sagen, es ist gimmickhaft, aber es auf jeden Fall noch in den Kinderschuhen."
Aber der Boiler Room hat bereits den Schuhlöffel in der Hand – für den Fall, dass diese kurzen Live-dabei-Erlebnisse zu einem neuen Unterhaltungs-Highlight werden sollten.