Wie hoch darf der Preis für den Frieden sein?
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Durch Zugeständnisse an Hitler wollten England und Frankreich 1938 den Frieden sichern. Knapp ein Jahr später brach der Zweite Weltkrieg aus. Seitdem ist Appeasement-Politik in Verruf geraten und zum Schimpfwort geworden. Zu Recht?
"Hurra, wir kapitulieren!" nannte der notorisch provokante Publizist Henryk M. Broder 2006 eine Streitschrift mit dem Untertitel: Von der Lust am Einknicken. Broder fragt darin, "ob Respekt, Rücksichtnahme und Toleranz die richtigen Mittel im Umgang mit Kulturen sind, die sich ihrerseits respektlos… verhielten". Er hatte die westlichen Demokratien und ihr Verhalten einem radikalen Islam gegenüber im Blick, sogenannte Appeasement-Politik im 21. Jahrhundert.
Im Februar 2006 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Begriff mit Blick auf den Iran verwendet. Und wer heutzutage Appeasement sagt, will klar machen, dass das, was da vor sich geht, in hohem Maß gefährlich ist.
Dabei enthält das Wort, wenn auch fast verschämt, seine Wurzel, das altranzösische pais, noch mit einem "s" am Ende, nicht dem heute üblichen x, woraus sich das Verb appaiser ableitet, befrieden, was dem englischen appeasement zugrunde liegt.
Denn nicht die Lust am Einknicken, wie Broder, typisch Broder, lästert, treibt die Appeaser, sondern der Primat des Friedens, wenn nicht um jeden, so doch um einen womöglich hohen Preis. Je fragiler ein Friede, desto höher wird der Einsatz: Was dulde ich? Was toleriere ich, obwohl ich es ablehne, verwerflich finde, im Grunde bekämpfenswürdig? Appeasement setzt auf Frieden als Happy End, als Alternative zum Kampf um die richtigen Werte. Der Klügere gibt nach?
Appeasement-Politik ist in Verruf geraten
In Verruf geraten ist das Konzept in den Dreißigerjahren. Da hielt sich die britische Regierung, namentlich Premierminister Neville Chamberlain, für klüger als andere im Umgang mit den Nationalsozialisten, namentlich Hitler, in der Hoffnung, dieser sei nicht nur von kriegslüsternen Falken, sondern auch von mäßigenden Tauben umgeben, die man nur stärken müsse, um Schlimmeres zu verhindern.
So begab sich die Staatengemeinschaft auf den Weg ins Allerschlimmste, beginnend mit dem Münchner Abkommen von 1938, das Hitlers Besetzung des tschechoslowakischen Sudetenlandes hinnahm – um des Friedens, also des Appeasement willen. Den sogenannten Anschluss Österreichs hatte man auch schon hingenommen. Im Unterhaus erklärte Chamberlain:
"Seit ich mein derzeitiges Amt übernahm, war es mein wichtigstes Ziel, Europa echten Frieden zu bringen, die Verdächtigungen und Animositäten zu beseitigen, die so lange die Atmosphäre vergifteten. Der Pfad, der zu einer Beruhigung führt, ist lang und voller Hindernisse. Das Problem der Tschechoslowakei ist das jüngste und vielleicht das gefährlichste. Nun, da wir es überwunden haben, meine ich, dass es möglich sein sollte, weitere Fortschritte zu machen auf dem Weg der Gesundung und der Vernunft."
Politisches Handeln ist eine Wette auf die Zukunft
Die Geschichtswissenschaft, schon gar die historische Publizistik, bricht den Stab über Ereignisse und Personen im Nachhinein in Kenntnis des weiteren Fortgangs der Geschichte und ihrer zum Zeitpunkt des Geschehens verborgenen Voraussetzungen. In dieser Perspektive kann man das Appeasement Hitler gegenüber nicht klar genug verurteilen, bestenfalls als naiv, womöglich gar als zynisch. Aber waren diese Männer – es waren alles Männer – wirklich naiv oder gar Zyniker?
Politisches Handeln ist immer eine Wette auf die Zukunft. Zahllose Unwägbarkeiten liegen zwischen einer politischen Aktion und einem mit dieser Aktion intendierten Ergebnis. Appeasement als Konzept verengt diesen Korridor und erhöht den Wetteinsatz. Der Verhandlungspartner, sprich: Gegner erhält mehr Raum und obendrein das Gefühl, dass er sein Tun ungehindert fortsetzen kann – noch ein Stück, dann womöglich noch ein Stück und das erst einmal ohne Konsequenzen.
Das schwächt die Appeasement-Seite, je länger es dauert, je weiter es geht, und setzt sie immer mehr unter Druck. Und es kann überhaupt nur zu einer Politik mit echten Konsequenzen werden, wenn der letzte Einsatz, ebenjener Krieg, der verhindert werden soll, ernsthaft erwogen wird.
Eine Wahl zwischen Pest und Cholera?
So treibt Appeasement gerade diejenigen, die dezidiert auf Befriedung durch Beschwichtigung setzen, in die Position derjenigen, die bereit sein müssen, den Krieg als Mittel der Appeasement-Politik einzusetzen. Andernfalls wird aus Appeasement ein Zustand billigender Passivität.
Genau so wird Appeasement-Politik heute wahrgenommen. Man nehme als Gegenüber den Iran, Erdogan, Lukaschenko oder Putin, künftig auch die Taliban (hier in der dramatisch verschärften Version, dass die Option des militärischen Einmarschs aufs Erniedrigendste bereits verspielt ist) – aber auch einen Viktor Orbán oder einen Donald Trump.
Appeasement – das vor sich Herschieben der Roten Linie in Form immer neuer Zugeständnisse in der Hoffnung auf ein friedliches Ende – ist als politisches Konzept das Gegenteil des Kalten Kriegs, der umgehenden Ahndung einer Provokation im Gestus der Überbietung. Auch der Kalte Krieg war eine Wette auf die Zukunft, eine besonders gewagte.
Ist das die Alternative, vor der wir heute stehen: Appeasement oder Kalter Krieg? Es wäre wahrlich die Wahl zwischen Pest und Cholera. Appeasement hat 1939 den Krieg nicht verhindern können, und der Kalte Krieg wäre ohne den historischen Sonderfall Gorbatschow womöglich auch zum heißen Krieg eskaliert. Es ist dringend an der Zeit, neue flexible, den jeweiligen Herausforderungen und Möglichkeiten angepasste Modelle einer Außenpolitik zu entwickeln, die weniger spekulative Wette auf die Zukunft sind als verantwortungsbewusstes Handeln in der Gegenwart.